Politische Kampagnen im digitalen Zeitalter

Online-Wahlkampf: Werben, wo die Zielgruppe ist

Das Online-Zeitalter krempelt auch die Wahlkämpfe um. Neue Formen und Wege sollen Bürger motivieren, deren Parteienbindung ständig abnimmt. Ein Rückblick. 

Screenshot Facebook
(Bild: Screenshot Facebook)

Luftballons und Kugelschreiber gehörten jahrzehntelang zur Standardbewaffnung von politischen Wahlkämpfern. An bunten Ständen wurde das Werbematerial unter noch bunteren Sonnenschirmen unters Volk gebracht. Doch 20 Jahre nach dem Durchbruch des Internets können die Parteien nicht mehr auf den Online-Kanal verzichten.

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Wahlkampf soll Begeisterung wecken. Doch dem stehen vor der Bundestagswahl am 24. September einige Hindernisse im Wege. Zum einen hat es Kanzlerin Merkel bisher verstanden, die politische Auseinandersetzung vor Wahlen durch gekonnte Einschläferungstaktik zu einer für sie risikoarmen Angelegenheit zu machen. Alle Parteien haben zudem, wenn auch unterschiedlich stark, mit der kontinuierlich nachlassenden Parteienbindung der Bürger zu tun. Die Mitgliedszahlen beinahe aller Parteiorganisationen sind rückläufig. Die Ortsvereine dünnen aus und überaltern. Immer weniger sind bereit, sich zum Plakate Kleben die Wochenenden um die Ohren zu schlagen.uftballons und Kugelschreiber gehörten jahrzehntelang zur Standardbewaffnung von politischen Wahlkämpfern. An bunten Ständen wurde das Werbematerial unter noch bunteren Sonnenschirmen unters Volk gebracht. Doch 20 Jahre nach dem Durchbruch des Internets können die Parteien nicht mehr auf den Online-Kanal verzichten.

Facebook als Kampagneninstrument

Schon seit Jahren beobachten Soziologen die Verlagerung öffentlicher Aktivitäten ins Ehrenamt und hier v.a. für thematisch eingegrenzte Projekte. Gruppierungen finden sich zur Lösung eines konkreten Problems zusammen und gehen danach wieder ihrer Wege. Um Mitstreiter für Aktionen und Vorhaben zu finden, sind soziale Netzwerke heute unabdingbares Hilfsmittel. Mittlerweile hat Facebook in Deutschland 30 Millionen aktive Nutzer, beim Kurznachrichtendienst Twitter machen 12 Millionen Deutsche mit. Für Tobias Nehren, Leiter digitale Kampagnen der SPD, ist „Facebook der Supermarktparkplatz des Internets“. Hier kämen die Menschen mit Politik in Berührung, hier könnten sich Parteien sichtbar machen. Allerdings, so Stefan Hennewig, Leiter Kampagne und Marketing der CDU, seien tiefgehende politische Diskussionen auf Facebook eher selten. Trotzdem sei „Facebook ein gutes Kampagneninstrument, mit dem man sehr gut auf die eigenen Inhalte verweisen und verlinken kann“.

 

Die Parteien haben das Internet und die sozialen Medien lange als Transmissionsriemen für politische Botschaften und die Organisation von Veranstaltungen vernachlässigt. Inzwischen sind sie online längst präsent, dabei gibt es je nach Plattform unterschiedlich starken Zuspruch. Auf Twitter sind die Grünen mit knapp 340.000 Followern Reichweitenkönig. Bei Facebook kehren sich die Verhältnisse um, hier führt die AfD mit 330.000 „Gefällt mir“-Angaben.

Ein weiterer Kanal zur Ansprache potenzieller Wähler ist YouTube. Googles Videoplattform bietet Selbstdarstellern naturgemäß einen besonders geeigneten Raum. Kein Wunder, dass die FDP, die ihren Wahlkampf völlig auf ihren Vorsitzenden Christian Lindner zugeschnitten hat, hier besonders präsent ist.

Virtuelle Wahlkampfauftritte

Das zeigt, dass Testimonials auch in der politischen Werbung zur Wähleraktivierung unverzichtbar sind. FDP-Chef Lindner sammelt auf Facebook genauso viele Likes wie seine Partei ein. Mit 2,5 Millionen Facebook-Likes stellt Kanzlerin Angela Merkel allerdings alle anderen Politiker und Parteien weit in den Schatten. Unterm Strich verfolgen die Parteien durchaus unterschiedliche Strategien. Konservative Gruppierungen setzen eher auf Facebook, wohingegen eher linke und sich modern gebende Parteien mehr bei Twitter zuhause sind.

Diese Kanäle eröffnen Politikern neue Möglichkeiten zur direkten Ansprache der Bürger. Anders als bei klassischen Plakatkampagnen, bei denen flächendeckend die gleichen (und oft auch gleich langweiligen) Motive geklebt werden, gibt es im Netz die Gelegenheit zum Dialog. Die Nutzer können mit einzelnen Politikern in direkten Kontakt treten. Politiker nutzen dazu auch die von Facebook und Twitter geschaffenen Möglichkeit der Live-Berichterstattung: Facebook Live und Periscope. Über die Kommentarfunktion können Interessenten Fragen und Anmerkungen loswerden, die dann im Video-Livestream beantwortet werden. Kurz vor der NRW-Landtagswahl im Mai 2017 stellte sich etwa Christian Lindner der Facebook-Gemeinde. Die Live-Schalte auf den Balkon des Politikers wurde 200.000 Mal aufgerufen, mehr als 3.000 Kommentatoren hinterließen ihre Rückmeldungen. Zuvor wurden Fans und Abonnenten informiert, sobald die Seite live war.

Nach Angaben von Facebook stößt die Live-Videofunktion auf große Resonanz. Im Schnitt würden Nutzer bei Facebook-Live-Clips zehnmal so häufig kommentieren als bei üblichen Videos. Damit bietet sich für Online-Wahlkämpfer ein Instrument zur Nutzerbindung, das den Anziehungseffekt herkömmlicher Angebote auf sozialen Netzwerken um ein Mehrfaches übersteigt. So hat sich ein ganz neues Kommunikationssegment etabliert. Ein wesentlicher Aspekt ist die Interaktivität, die jedem einzelnen Nutzer die Chance gibt, sich persönlich und individuell ins Geschehen einzuschalten. Der virtuelle Online-Bereich wird verlassen bzw. er erhält seine Erweiterung und Entsprechung in der Sphäre der Wirklichkeit. Das ist zwar kleinteiliger als etwa eine Bierzeltrede im Online-Livestream, bindet aber Nutzer durch deren aktive Teilnahme wesentlich tiefer ins Geschehen ein.

Das Netz als Themenradar

Solche interaktiven Präsenzen in sozialen Netzwerken können als Seismographen für politische Stimmungen und als Themenradar dienen. Natürlich werden von allen Parteien auch Tools zur Analyse von Daten verwendet, auf denen wiederum weitere Reaktionen basieren. Big Data liefert die Informationen, um auf die jeweilige Zielgruppe zugeschnittene Botschaften auszuspielen und deren Erfolg zu überprüfen. Die SPD unternahm etwa im Frühjahr, zu den Hochzeiten des Hypes um Martin Schulz, eine Reihe von Versuchen, Nutzer auf durchaus humorige Weise an sich zu binden. Mit Hashtags wie #zeitfürmartin, #zeitfürgerechtigkeit oder #jetztistschulz wurden nicht primär komplizierte Politbotschaften verbreitet. Sie sollten u.a. die für Schulz positive Stimmung aufgreifen, verstärken und verstetigen. Wie sich spätestens im Sommer zeigte, haben die mit dem plötzlichen Sprung in den Umfragewerten verbundenen Hoffnungen getrogen. Es scheint der SPD nicht gelungen zu sein, die zwischendurch massive Aufmerksamkeit für ihren Kandidaten in längerfristigen Zuspruch umzumünzen.

Auch die Grünen laufen derzeit umfragemäßig den zweistelligen Werten, die sie vor Jahresfrist hatten, hinterher. Parteichef Cem Özdemir, ein Sympathieträger der Grünen, kann im Netz mit seiner Beliebtheit punkten. Mit 125.000 Facebook-Abonnenten kommt er auf die Werte der Bundespartei. Mit seiner sehr persönlichen Weihnachtsgeschichte erreichte er im letzten Dezember allerdings den Popstar-Wert von 3 Millionen Facebook-Nutzern, knapp dreißigmal mehr als seine Kontakte im Netzwerk.

Manchmal können Versuche, mit möglichst originellen Sprüchen und Motiven einen viralen Schneeballeffekt zu erzeugen, gut funktionieren, nur anders, als gedacht. Schon der Wahlkampfslogan der CDU zur Bundestagswahl, „Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben“, strotzt nicht gerade vor Originalität. Da kamen die Onlinestrategen in der CDU-Zentrale Ende Juni auf die Idee, den Claim zum hippen Twitter-Hashtag #fedidwgugl einzudampfen. Im Nu landete er in den deutschen Twitter-Trends ganz oben. Allerdings ergossen sich Hohn und Spott über die Unionsstrategen. Auf Twitter lästerte ein Nutzer: „SPD: Gerechtigkeit. Grüne: Umwelt. FDP: Freiheit. Und die CDU so #fedidwgugl.“

Und so ist das gute alte Plakat noch längst nicht tot. Die Grünen wollen im laufenden Bundestagswahlkampf sogar doppelt so viel Plakatwerbung einsetzen wie 2013. Der Übergang ins digitale Zeitalter erfolgt also in möglichst gemächlichem Tempo. [1546]

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