Christoph Schlingensief war Deutschlands, ja Europas wichtigster Künstler auf den Spuren von Josef Beuys. Die Kunstwerke in Berlin widmeten dem 2010 verstorbenen Regisseur und Performer eine große Retrospektive, die sich EVENT PARTNER-Autor Andreas Schäfer für die literarisch/philosophische Event-Ecke ausführlich ansah. Und der fand die Werkschau sehr eindrucksvoll – gerade für Eventmacher.
Das muss man Event-Kunden leider ins Poesiealbum schreiben. Sie erwarten oftmals Haute Cuisine, ermöglichen aber dann doch nur Instantsuppe, was nicht nur an den Budgets und dem qualvollen Treiben der Einkäufer liegt. Anstatt sich auf (künstlerische) Prozesse einzulassen, wird das Ergebnis eigentlich schon mit der Aufgabenbeschreibung erwartet. Großes kann so nicht entstehen. Solches entsteht erst im Prozess der Kreation, die Aufmerksamkeit, Mut, Vertrauen und Dialog-Kommunikation erfordert. Bei Christoph Schlingensief ging das noch weiter. Die Inszenierungen waren performativ. Er regierte spontan im Augenblick des Geschehens. Das machte es so lebendig. Dabei war Christoph Schlingensief gar nicht der Berserker, als der er vom Boulevard verschrien war. Christoph Schlingensief war auch immer der nette aufmerksame Apothekersohn aus Oberhausen.
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Das hinderte ihn nicht, Themen aufzuspüren und ihnen einen Präsentationshorizont zu bauen. Ein Meister der Aufmerksamkeit war er, wie kein Künstler seiner Generation. Aber ohne die schwitzige Verkitschtheit eines Kunstunternehmers wie Jeff Koons. Die Herrhausen-Stiftung der Deutschen Bank engagierte Christoph Schlingensief einst für eine Einweihung des Reichstages zu Berlin vor dem Einzug der Abgeordneten und gab ihm die inszenatorische Carte Blanche. Die Bänker wollten sich mit Avantgarde schmücken. Es war die Zeit des Kosovokrieges. Schlingensief kündigte an, bei dem zu erwartenden, gut betuchten Publikum Spenden für Kriegsopfer zu sammeln und drohte, wenn nicht genug zusammenkäme, würde er stattdessen sein Honorar von der Kuppel des Reichstages in den Wind verstreuen.
Die mit der Veranstaltung betraute Brigitte Seebacher(-Brandt) und ihre Bankherren in den Frankfurter Zwillingstürmen bekamen Muffensausen: Eine Bank hält schließlich das Geld zusammen. Kurzfristig wie mutlos wurde der Schlingensief-Event abgesagt. Es folgte ein Shitstorm im deutschen Feuilleton, den sich kein Bankkommunikator wünscht. Für den mutigen Christoph Schlingensief war die Aktion dagegen äußerst erfolgreich. Eine Botschaft in einen relevanten Zusammenhang zu stellen – so inszeniert man nämlich. Das kann man bei Christoph Schlingensief einfach abgucken. Ein bisschen „Feuerwerk“ um einen Slogan ist dagegen schnell abgebrannt und vergessen.
Die Lücke im Ablauf
Christoph Schlingensiefs Filme sind wie Kodachromes aus der Zeit gefallen. Sie zeigen nicht nur die eine Wirklichkeit, sondern immer noch eine andere Möglichkeit. Die Lücke im Ablauf interessierte Christoph Schlingensief brennend. Er konstruierte Animatographen, Kunstkarussels für Große. Eines davon hatte die Kuratorin und Witwe Aino Laberenz in der Auguststraße in Berlin aufgebaut. Man fährt zurück in das Glück der Kindheit, immer rundherum und wird mit wichtigen Fragen befeuert. Kunst beantwortet keine Fragen, sondern stellt diese.
Im Event-Zusammenhang ist das Produkt oder Unternehmen die Antwort auf die relevanten Fragen, die Kunst stellen kann. Und Künstler sind keine Dienstleister. Sie leisten Kunst und das ist so viel mehr als Dienst. Künstler haben eine Haltung. Ihre Kunst, wie eben bei Schlingensief, hat ein Ziel und nicht nur einen Zweck. Das wäre nämlich in diesem Zusammenhang dekoratives wie belangloses Gedöns.
Kunst hebt den Betrachter auf eine höhere Seinsebene. Das muss ihm dabei gar nicht bewusst werden. Unterhaltung ist dagegen meistens nur Zeitvertreib. Nett aber kurzatmig. Schlingensief wollte über den Moment hinweg wirken, so stiftete er in Afrika mehr als die Idee des Operndorfes. Einlassen ist auch dort das offenliegende Geheimnis. Es geht dort nämlich nicht um Show, sondern auch um Bildung und Gesundheit. Mit der Partei Chance 2000 hat er das Guerilla-Marketing in die Politik implementiert. Das Bad im Wolfgangsee war ein großartiger Coup mit einem kolossalen Humor. In unsere Burn-Out-Leistungsgesellschaft rief er das Recht zu scheitern hinein, und zwar lautstark. Inklusion war sein selbstverständliches Thema.
Schlingensief reagierte als Künstler
2008 dann der große Schock: Die Diagnose Lungenkrebs. Christoph Schlingensief reagierte als Künstler. Die Inszenierung „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ war ein atemberaubendes Requiem in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, in der die Zeit rückwärts laufen konnte. Christoph Schlingensief hat sich seiner Angst gestellt, ohne diese Angst den Zuschauern aufzudrängen. Dieses grandiose Theaterwerk wirkte analog zum Gottesdienst, den der frühere Messdiener aus seiner katholischen Kindheit kannte, mit einer felliniesken Lebensüppigkeit und spendet Trost für Atheisten und Ungläubige aller Religionen. Vor Tiefgang muss man sich nicht fürchten. Und wenn es gelingt, mit einem Werk nicht nur Mehrwert, sondern auch echten Nutzen zu produzieren, dann ist man auf dem richtigen Weg, etwas Relevantes zu kreieren. Wir schwafeln zu viel über Nachhaltigkeit und schaffen doch noch zu wenig davon.
Christoph war immer aufrichtig. Seine Kunst ist ein Teil der Aufklärung und nicht ein Teil der Manipulation, als die übrigens Marketing immer noch zu oft verstanden wird. Which side are you on? Christophs früher Tod macht auch deutlich, dass die Frage nach der Sinnhaftigkeit irgendwann vom Leben in seiner zwangsläufigen Endlichkeit gestellt wird. Ich habe Events immer als Teil der angewandten Kunst gesehen und nicht nur als Verkaufsformat. Der Event ist der angewandte Bruder des Theaters, so wie die Architektur die angewandte Schwester der Bildhauerei ist. Der Zweck ist zwar immer dabei, sollte aber nicht das Alleinstellungsmerkmal sein. Die Frage nach dem Sinn und dem Nutzen „für wen“ darf und muss gestellt werden. Auch die allerdynamischsten Event-Manager werden sich eines Tages die Frage nach den verpassten Chancen im Leben und der Sinnhaftigkeit stellen.
Christoph hat ein Werk hinterlassen, dass sich so sehr lohnt gezeigt zu werden und das über den kurzen Moment einer Betroffenheit lange hinaus wirkt. Sein frühes Ableben bleibt tragisch. Christoph Maria Schlingensief war letztlich der Schamane, der seinen Beitrag zu einer „besseren“ Welt geleistet hat, sich aber selbst nicht heilen konnte. Was für ein Drama.