Exkurs in die Spieleindustrie: Schnittstellen & Learnings
Kann die Gaming-Industrie Online-Events revolutionieren?
von Alexander Heber, Artikel aus dem Archiv vom
Seitdem digitale und hybride Eventformate Einzug in die Veranstaltungsbranche halten, zeigen sich deutliche Schnittmengen mit der Gaming-Industrie. Warum gibt es dennoch so wenig Kooperation zwischen den Branchen? Was können wir von der Gaming-Industrie lernen?
Es ist Sonntagnachmittag, halb drei MESZ. In diesem Moment tummeln sich knapp über 20 Millionen Nutzer auf der Plattform Steam und spielen aktiv ein Computerspiel. Weitere Millionen Nutzer zocken auf Spielekonsolen. Wer gerade keine Lust hat, selbst in die Rolle eines digitalen Helden zu schlüpfen, schaut vielleicht anderen Gamern live beim Spielen zu. Auf diesem Weg kann man neue Spiele entdecken, sich neue Strategien für bereits bekannte Spiele abgucken oder sich einfach nur unterhalten lassen. Dabei interagiert man per Chat mit dem Let’s Player und anderen Zuschauern.
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Für Gamer ist es längst selbstverständlich, Technik als verlängerten Arm zur Kommunikation zu nutzen, Avatare durch virtuelle Welten zu bewegen und mit anderen Spielern oder NPCs zu interagieren. In Spielen werden digitale Gegenstände gehandelt, es wird gechattet, Strategien werden besprochen und dann mit Teamwork umgesetzt. Neulinge im Spiel werden von einem Tutorial empfangen und lernen so die grundlegenden Mechaniken kennen, mit denen man sich durch das neue Spiel bewegt.
Wenn man Zeuge dieser oft reibungslosen Online-Gaming-Interaktion wird und dann zusehen muss, wie manch „neues“ Online-Event so vor sich hin stolpert, dann fragt man sich, wo denn die alles heilende 3D-Virtual-Hyper-Interactive-Failsafe-Event-Platform – powered by The Gaming Industry – bleibt. Oder kurz: Was können wir von der Gaming-Industrie lernen?
Glossar
Avatar: Figur, mit der man sich durch das Spiel bewegt. Manchmal auch Character Model genannt.
NPC: Non-Player-Character; ein Charakter mit künstlicher Intelligenz, der nicht von einem Menschen gesteuert wird.
Minimap: Eine kleine Karte zur Wegfindung, ähnlich eines Navigationssystems.
Among Us: Computerspiel, in dem man in einem Team Wartungsarbeiten auf einem Raumschiff durchführt. Es gibt jedoch Verräter in der Gruppe, die die anderen Teammitglieder beseitigen. In Gruppendiskussionen muss man herausfinden, wer die Verräter in der Gruppe sind. Es ist eine digitale Interpretation des Gruppenspiels „Werwölfe von Düsterwald“.
Cutscene: Zwischensequenz in einem Spiel. Meist cineastisch inszeniert, um dem Spieler etwas zu zeigen oder die Geschichte des Spiels voranzutreiben.
Teil 1: Das Potenzial
Tatsächlich könnten viele Features, die man aus Computerspielen kennt, nützliche Bausteine für eine virtuelle Veranstaltungsumgebung sein. Teile davon lassen sich bereits in einigen digitalen Eventformaten finden. Andere, bisher ungenutzte Potenziale könnten weiteren Mehrwert für Online-Events bieten.
Veranstaltungsorte und Exponate
Eine virtuelle Welt will erst einmal geschaffen werden. Wenn wir konservativ denken, dann wäre das zum Beispiel ein einfaches Konferenzzentrum: mit Rezeption, großen Hallen, schicken Bühnen, gemütlichen Workshop-Räumen und hell beleuchteten Ausstellerbereichen. Zwischen den einzelnen Arealen kann man per Mausklick hin- und herwechseln und eine kleine Minimap in der Bildschirmecke hilft bei der Navigation durch die Messehalle.
Die klassischen Informationen, die wir aus Programmheften kennen, ließen sich in die einzelnen Bereiche integrieren oder über Infotafeln und Menüs erreichen. Es ist vorstellbar, Ladebildschirme für Tipps, Sponsoren-Slides oder Werbung zu nutzen. Das digitale Konferenzzentrum hat rund um die Uhr geöffnet, um Teilnehmern aus aller Welt den Zugang zu erleichtern. An Messeständen kann man sich – ohne anzustehen – die Exponate oder Promovideos ansehen. Aussteller sind auch nicht durch eine Standfläche beschränkt und es können ganz eigene „Level“ zur Präsentation geladen werden. Ein Stand der ESA könnte durchaus auf dem Mars sein oder mitten in der ISS. Ebenso ließe sich der Fahrgastraum des neuen e-Bulli per VR direkt auf die heimische Couch simulieren. All das ist denkbar – vielleicht nicht unbedingt sinnvoll, aber nichtsdestotrotz denkbar.
Interaktion & Teambuilding
Den wohl größten Mehrwert erwartet man von den Möglichkeiten zur Interaktion. Was kann man tun, um Teilnehmer digitaler Veranstaltungen zu integrieren und bei der Stange zu halten? In Online-Spielen bewegt man sich in Form eines Avatars durch die Welt. Diese Avatare können individuell gestaltet werden, damit man seine „Figur“ auch wiedererkennt. In Veranstaltungsformaten könnten die Avatare mit einem Klick Informationen zum Teilnehmer bereitstellen, wie z.B. Name, Organisation, Position, Anzahl vorangegangener Teilnahmen am Event u.v.m. Vorbei wäre die Zeit, in der man peinlich berührt fragen muss, woher man sich noch gleich kennt. Der Austausch digitaler Gegenstände ließe sich auch abbilden: Messestandbetreuer könnten Visitenkarten unterschiedlicher Wertung herausgeben und Teilnehmer im Nachgang gezielt betreuen und an die richtigen Kontakte und Webseiten weiterleiten.
Die Nutzer könnten auch direkt miteinander sprechen. Voice-Chats sind ein Standardfeature in den meisten Multiplayer-Spielen, viele Spieler nutzen aber Angebote von anderen Anbietern wie beispielsweise Discord oder Teamspeak. An dieser Stelle lässt sich die von Hause aus hohe technische Affinität von Gamern beobachten. Wer einmal versucht hat, per Telefon eine Ferndiagnose bei einem Referenten, der es nicht in das Online-Meeting schafft, durchzuführen, der weiß, dass wir nicht immer mit dem selbstsicheren Umgang mit Technik rechnen können („Ach Mist, ich hab‘ ja noch den Aufkleber auf der Kamera.“)
Während wir uns den Kopf darüber zerbrechen, wie wir Technologien aus Spielen für Eventzwecke verbiegen können, vergessen wir aber schnell die Wurzel des Setzlings: Das Spielen an sich! Was wird nicht alles versucht, um dröge Eventkonzepte aufzulockern. Für manche ist die Wordcloud schon Spielerei genug, andere versuchen es mit Hands-on-Spielen in der Hotellobby oder mit einer gemeinschaftlichem Saalrunde Pong auf der Leinwand per SwarmWorks. Der Spieleaspekt kann durchaus teambildend und spannend für Veranstaltungen sein. Warum lässt man ein paar Abteilungen im Unternehmen nicht mal eine Runde „Among Us“ spielen? Es werden sich ganz neue Fähigkeiten und Charakterzüge offenbaren. Oder wie wäre es damit, dem Kollegen oder Chef in einer Box-Simulation mal eins auf die Nase zu geben? Das kann durchaus Spannungen abbauen. Gerade auch Spiele, in denen man gemeinsam etwas kreieren kann, wie beispielsweise Minecraft, können eine Inspiration sein, Ideen hervorbringen und Gemeinschaftsgefühle stärken. Auch Workshops lassen sich in solchen Formaten durchführen.
Präsentieren in Spielewelten
Auch in virtuellen Welten lässt sich präsentieren, allerdings ist die Spielewelt hier von Hause aus nicht so adaptierbar ausgestattet. Es werden vornehmlich Cutscenes und Dialoge zwischen Charakteren verwendet, um die Story eines Spiels weiter voranzutreiben. An dieser Stelle bedienen sich Spiele an den klassischen Mitteln des Storytellings und der Kinematographie. Videosequenzen einzubinden ist also gang und gäbe. Mit Live-Video sieht es allerdings anders aus: Obwohl dies durchaus möglich ist, ist es kein etabliertes Konzept in Videospielen.
Dennoch werden Live-Videos tagtäglich mit Spielen verbunden. Let’s Plays auf Twitch und YouTube zeigen Computerspiele kommentiert von Spielern, inklusive Kamerabild des Spielers. Let’s Player haben sich dafür Studiosituationen geschaffen – inklusive Beleuchtung, häufig mit Greenscreen, gutem Mikrofon, Mischpult und animierten Bildschirm-Overlays. Nebenbei wird noch mit dem Chat interagiert. Erfolgreiche Let’s Player sind technisch versierte Entertainer, die Messlatte für guten Content liegt hoch. In der Gamingwelt werden schon seit Jahren Medien miteinander gemischt, trotzdem werden den Spielen keine Features für Live-Video oder Bauchbinden hinzugefügt, denn das ist schlichtweg nicht Sinn und Zweck der Spieleentwicklung.
Teil 2: Was können wir von der Gaming-Industrie lernen?
Bevor beleuchtet wird, welche Motivation die Spieleindustrie haben könnte, aktiver bei Events mitzumischen, sollte untersucht werden, wie diese technisch versierte und kreative Branche auf Corona reagiert hat. Dieses Jahr geht eine neue Generation Spielkonsolen an den Start und die wichtigen Gaming-Messen konnten nicht wie gewohnt stattfinden: E3, Gamescom, Game Developers Conference (GDC), Tokyo Gameshow und viele, insbesondere kleinere, lokale Messen fielen aus oder mussten anders umgesetzt werden. Der Spieleindustrie sind somit etablierte Eckpfeiler des Marketings und der Geschäftskommunikation weggebrochen. Anstatt nun für alle Erlebnisse sofort einen digitalen Ersatz zu suchen, sollte man sich allerdings erst einmal wieder ganz klassische Fragen stellen:
Wen will ich erreichen?
Welche digitalen Alternativen bringen wirklich einen Mehrwert?
Welche Mittel habe ich vielleicht schon längst?
Für die Firma HandyGames und ihren CEO und Gründer Christopher Kassulke bedeutete das, für die Gamescom eine eigene Show mit drei Tagen Programm zu produzieren, sich bei der virtuellen Messewelt „Indie Arena Booth 2020“ einzubringen (auch bei der Programmierung von Ständen) und zusätzlich etablierte Kommunikationskanäle wie Discord und MeetToMatch zu nutzen. Ja, man macht sich Mittel und Know-how der eigenen Branche zu Nutze, aber mit Bedacht und nicht um Räder neu zu erfinden.
„Eventplattform … klar könnten wir das. Aber wir machen Kunst. Es ist für Entwickler einfach unsexy, so etwas zu programmieren.“
Christopher Kassulke, CEO HandyGames
Die „Indie Arena Booth 2020“ war eine kreative und umfangreiche 3D-Welt im Browser, in der man sich mit einem eigenen Avatar durch bunte Messehallen bewegen und mit anderen Teilnehmern kommunizieren konnte. Aber die Welt hatte nicht zur Aufgabe, alle Kanäle zu vereinen oder zu ersetzen: Es gab eine klare Vision und die Branche selbst hat diese Lösung nach den eigenen Vorstellungen und Anforderungen gestaltet. Alle Beteiligten sprechen die gleiche Sprache und so konnte ein derart ambitioniertes Projekt auch in knapp vier Monaten zum Leben erwachen. Und trotzdem: Die Spieleindustrie freut sich auch auf die Zeit, in der Präsenzveranstaltungen wieder Realität sind. Sympathie und Stimmung erfühlt man in der realen Welt. Ein Saal mit einem Publikum lässt sich lesen, der Talk in die Kamera kann das nicht. Wenn es darum geht, mit wem man ins Geschäft kommen will, so erfährt man bei einem Getränk an der Hotelbar auch mehr über den potenziellen Geschäftspartner als in zwei Tagen Chatroom und Videocall, da hilft auch ein gemeinsames Spielchen in 3D nicht weiter.
Es lohnt sich, einen Blick auf die aktuellen Events der Gaming-Industrie zu werfen. Nicht nur weil Innovationen wie die „Indie Arena Booth“ entdeckbar sind, sondern auch weil man einen souveränen Umgang mit anderen Medien beobachten kann. Videokonferenzen mit vielen Teilnehmern sind für die Spieleindustrie kein Neuland. Studios sind oft überall auf der Welt verteilt und ein Austausch findet schon lange mit moderneren Medien über das Internet statt. Die Lernkurve ist für die Gaming-Industrie nicht so steil wie für Firmen, die jetzt zum ersten Mal mit dem Thema Homeoffice konfrontiert sind. Mittel, die Veranstaltungstechnikunternehmen bereitstellen können, wie beispielsweise 3D-Kamerastudios, werden sinnvoll und ansprechend in die Events eingebracht. Veranstaltungen wie die Gamescom sind gute Beispiele, wie professionelle Events in diesen herausfordernden Zeiten aussehen können.
Teil 3: Woran hapert es denn nun?
Wie man sieht, gibt es eine Vielzahl an Mitteln, die sich passend für die Veranstaltungswelt zweckentfremden ließen. Bis jetzt wurden die Elemente jedoch noch nicht zum digitalen Traum einer jeder Convention zusammengeführt. Warum nicht? Das Potenzial fällt natürlich vielen auf und so kann man sich folgende Szene gut vorstellen: „Das muss doch jemand merken und endlich mal was machen! Vielleicht rufen wir da mal an, da haben die Entwickler sicher nur darauf gewartet. Weiß hier einer, wer in Deutschland Spiele macht? Googelt das mal schnell und gebt mir ein paar Telefonnummern, das wird die Revolution.“
Verständnis
Wenn man ehrlich ist, so gibt es in der Veranstaltungsbranche einen erschreckenden Standard. In kaum einer anderen Branche wird auf Kommando so hoch und so weit gesprungen wie in der Eventbranche. Man ist eine ungesunde und vielleicht nicht immer notwendige Flexibilität gewöhnt und reagiert mit Unverständnis, wenn Freitag um 17:30 Uhr niemand mehr ans Telefon geht. Natürlich trifft das nicht auf alle zu. Trotzdem vergisst man gern, dass nicht jeder Wirtschaftszweig so tickt.
Bei HandyGames klingelt mittlerweile mehrmals täglich das Telefon zum Thema virtuelle Events. Fast immer muss man den Agenturen erklären, dass auch eine digitale Messehalle Geld kostet und Zeit braucht, bis sie errichtet ist. Ein Spiel zu entwickeln dauert mit einem fitten Team mindestens zwei Jahre, manche Projekte brauchen noch viel länger. Komplexe Eventumgebungen zu erschaffen, die tatsächlich funktionieren und getestet sind, bilden da keine Ausnahme. Hinzu kommt, dass viele gar nicht wissen, was sie eigentlich genau brauchen oder wollen – es muss aber am besten schon morgen alles fertig sein. Solche Anfragen sind ermüdend … erst recht, wenn man nie damit geworben hat, so etwas überhaupt zu programmieren – oder programmieren zu wollen.
Schuster … Leisten …
Mal ehrlich: Wenn man einem Spieleentwickler eine Anfrage zur Erstellung einer Eventwelt schickt, ist es fast ein bisschen so, als würde man Helge Schneider fragen, ob er einem einen coolen Firmenjingle komponieren kann. Klar, er kann das bestimmt. Aber warum sollte er? Bei der Spieleindustrie ist es vielleicht nicht ganz so extrem, aber grundsätzlich gibt es erst einmal keinen Grund, sich dem Bereich der digitalen Eventplattform zu widmen. Spieleentwickler kreieren interaktive Kunst. Im besten Fall wird die harte Arbeit mit millionenfachen Verkäufen und Auszeichnungen gewürdigt. Die Entwicklung einer vollumfassenden digitalen 3D-Eventplattform bringt alle Schwierigkeiten, aber wenig Spaß und Kreativität auf den Tisch. Am Ende müsste die Plattform auf allen möglichen Geräten laufen und nach recht formalen, womöglich sogar langweiligen Kriterien gestaltet sein.
Dass die Branche sich nicht gänzlich gegen Projekte aus dem Eventbereich wehrt, bewies auch das Tomorrowland „Around the World“, bei dem EPIC Games Unterstützung bot. Allerdings kann man von einer klaren Vision seitens der Planer ausgehen sowie einem realistischen Budget. Doch selbst dann bleibt das Projekt eine endliche Kooperation und wird nicht zum neuen Wirtschaftszweig für EPIC Games.
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass nicht doch ein großer Entwickler in einem Eventprojekt involviert ist – sehr wahrscheinlich ist es jedoch nicht. Es gibt zahlreiche neue Projekte, die sich mit der Erstellung dreidimensionaler Eventumgebungen befassen. Eine Beteiligung namhafter Spieleproduzenten lässt sich bei diesen Projekten jedoch nicht ausmachen.
Super Artikel! Unendliche Möglichkeiten. Seit einigen Jahren fließen Games in unsere Konzepte ein, aber es blieb leider eher im Klein-Klein.