Round Table Talk mit follow red, facts and fiction und Joke Event

Die goldenen 90er: Gründungsphase der Eventagenturen

EVENT PARTNER holte zum Round Table Talk 80 Jahre Eventerfahrung zusammen, um die Anfangszeiten und die Unterschiede im Eventbusiness einmal Revue passieren zu lassen: Follow red (vormals Roth & Lorenz) feierte 2016 sein 30. Jubiläum, facts and fiction wurde genau am 22. Mai 2017, dem Tag des Gespräches, 25 Jahre. Die Joke Event AG hat ihr Silberjubiläum bereits im April gefeiert. Weitere Statements der drei Branchenkenner finden Sie hier

Round Table Talk - Die goldenen 90er
(Bild: Daniela Tobias)

Früher war jedenfalls mehr Freiheit. Die Medialisierung begann grade. MTV durchpflügte frisch die Fernsehlandschaft und erfand gänzlich neue Formate. Grunge und Techno waren angesagt: Alles war möglich! Ulrich Roth (follow red), Jörg Krauthäuser (facts and fiction) und Christian Seidenstücker (Joke) gewähren seltene Einblicke in die Zeit der „goldenen 90er“:

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Die 90er Jahre waren eine Zeit der großen Freiheiten. Was durch die Wiedervereinigung gesellschaftlich gegeben war – nicht nur in Berlin –, war eine positive Grundstimmung in der Gesellschaft.

Christian Seidenstücker: Das kann ich nur unterstreichen. Da hat man sich noch wesentlich mehr mit der Idee als mit dem Budget auseinandergesetzt. Da waren die Fragen: Wie mache ich das? Wie setze ich das um? Wie habe ich großen Erfolg? Bei uns fing alles so an, dass wir uns zunächst als Regionaldienstleister behauptet haben, und dann in den 90ern Stück für Stück gewachsen sind. Event gab es ja nicht als Lehrberuf, das lief nach dem Trial-and-Error-Prinzip.

Ulrich Roth: Man war eher bereit, etwas auszuprobieren. Und wir waren mittendrin. Das hat große Freude gemacht. Heute ist viel, viel mehr Know-how da, viel mehr Wissen – auch bei den Kunden. Nicht im Detail, aber in der Theorie. Und wir Agenturen müssen sehen, dass wir heute noch beraterischen Mehrwert bringen und immer auf der Höhe der Zeit bleiben, immer ein Stückchen vor den Kunden, was herausfordernd ist.

 

In den 90ern war der Ansprechpartner ja meistens direkt im Vorstand und nicht die Einkaufsabteilung. Oder die Vorstandssekretärin war die wichtigste Person (alle lachen).

Jörg Krauthäuser: Weil es damals noch darum ging, Marken zu bilden. Heute wird marktoptimiert. Heute ist auch viel mehr Angst da. Es wird versucht, alles zu belegen, was bei Imagefaktoren ganz, ganz schwierig ist. Einen langfristigen Imagewert kann man zwar auch messen, aber welche Maßnahme es im Endeffekt war, die das Vertrauen gebracht hat, bleibt meiner Meinung nach schwer zu bestimmen. Früher hatten die Vorstände auch ein Interesse daran, dass sich ihre Marke weiterentwickelt; sie standen selbst hinter der Marke. Das waren keine gekauften Vorstände, die nach drei Jahren wieder gewechselt haben, sondern sie hatten einen Stolz und eine Haltung zu ihrer Marke.

Roth: 1990 hatte Mercedes die C-, E- und die S-Klasse, das war es. Heute hat ein Hersteller mindestens 30 unterschiedliche Modelle. Bei Coca-Cola, auch ein Kunde von uns, war es genauso. Als wir anfingen, gab es Fanta, Coca-Cola und Sprite. Heute sind es 60, 70, 80 Varietäten, Marken, diverse Submarken, und alle brauchen irgendwie Kommunikation. Die Budgets sind daher viel, viel kleiner und die Vorgänge viel fragmentierter.

Ulrich Roth, Geschäftsführer follow red
Ulrich Roth, Geschäftsführer follow red (Bild: Daniela Tobias)

Seidenstücker: Genau, das ist komplexer geworden. Da fehlt manchen Kunden der Mut, gute Ideen einfach umzusetzen. Das ist eine Mentalität, die im Management etwas verloren gegangen ist.

Krauthäuser: Aber jetzt will ich auch mal etwas Positives an der Entwicklung sehen. Die Relevanz ist in den Vordergrund gerückt. Man macht nicht nur die Hoch-die-Tassen-Events, bei denen nur gefeiert wird. Es wird nicht nur gefragt, wie rechnet sich das, sondern auch welche Relevanz hat das für uns, passt das zu uns oder nicht. Das Zusammenpassen von Marke und Unternehmen, Organisation und Veranstaltung oder Ausstellung, ist stark in den Vordergrund gerückt. Das finde ich super. Weil das reine Strunzen und Strotzen für die Leute langsam langweilig wird. Man hat auch den Bedarf nach Inhalten, man will etwas lernen. Ich bin der festen Überzeugung, dass man bei Veranstaltungen, Ausstellungen, ja, allen Formen der Live-Kommunikation dann gut und erfolgreich ist, wenn man den Leuten etwas mitgibt. Das hat sich geändert. Höher, schneller, weiter war früher.

Seidenstücker: Hat sich der Markt verändert oder haben wir uns vom reinen Eventmarkt weg entwickelt? Oder ist Event insgesamt spezieller auf Marken und Promotion gegangen? Wir haben uns irgendwie in eine andere Richtung entwickelt. Gibt es immer noch so viele große Events wie vor 25 Jahren? Beispielsweise zu Produkteinführungen?

Roth: Ich denke nicht, glaube aber, dass wir bei den Agenturen eine größere Spezialisierung haben. Jeder hat eine spezifische Ausprägung.

Seidenstücker: Man muss plötzlich ganz andere Experten reinholen. Als wir begonnen haben, hatte niemand einen Lehrberuf, alle kamen vom Film, von der Hotellerie oder aus anderen Bereichen. Das war ein bunter Mix an Leuten. Die große Herausforderung für uns ist, tagtäglich auf den sich immer schneller verändernden Markt, die Rahmenbedingungen, die schnelle Kommunikationsgeschwindigkeit zu reagieren. Alles ist viel kurzfristiger geworden. Früher konnte man sich mit dem Kunden langfristig etwas überlegen, heute ist es fragmentierter, weil man oft nur noch in Teilbereiche reinkommt und sich glücklich schätzen kann, wenn man einen Kunden hat, der gerne eine ganzheitliche Beratung hätte, die sich über einen längeren Zeitraum erstreckt.

 

Was haben die Agenturen, die die 90er als Flaggschiffe bestimmt haben, wie Kogag, Gemadi oder G&D, falsch gemacht, dass es sie nicht mehr gibt?

Seidenstücker: Das kann ich nicht sagen. Es gehört immer auch Pech dazu. Wenn man in einem Jahr fünf, sechs gute Jobs hat und im nächsten Jahr fallen davon drei weg, kann man sich schnell verheben. Das hat viel mit Glück zu tun, man muss auf der anderen Seite auch immer wieder sein Geschäftsmodell hinterfragen: Wo kann ich Mehrwert für den Kunden bringen? Wie muss ich mich entsprechend aufstellen? Was war gut, wo sind wir schwach, wo müssen wir uns noch verstärken, wie müssen wir vielleicht anders auftreten?

Roth: Ohne uns zu sehr auf ein Schild zu heben, glaube ich, dass es wichtig ist, dass es Gründer und Unternehmer gibt, die eine gewisse Haltung verkörpern, die für bestimmte Werte stehen, die sich in einer Agentur durchtragen und an die ihre Mitarbeiter auch glauben. Das muss in höchster Authentizität vermittelt werden. Da ist entscheidend, dass es ein Management gibt, das einen Weg vorgibt und auch selbst daran glaubt.

 

Wie hat das Thema Digitalisierung Ihre Agenturarbeit in diesen 25, 30 Jahren verändert?

Krauthäuser: Das Einfachste ist die gesamte Medialisierung von Veranstaltungen oder Ausstellungen. Ich erinnere mich noch an unser Dia-Event zur Einführung des Ford Mondeo, zu dem wir mit 128 Projektoren eine Multimedia-Show gemacht haben. Heute ist es durch das Digitale viel schnelllebiger geworden, teilweise auch komplizierter. Du bist aber auch flexibler. Was Inhalte angeht, kann man heute viel besser reagieren als früher.

Jörg Krauthäuser, Geschäftsführer facts and fiction
Jörg Krauthäuser, Geschäftsführer facts and fiction (Bild: Daniela Tobias)

Roth: Das iPhone gibt es seit zehn Jahren, und wenn wir über die 90er reden, dann gab’s da definitiv noch keins.

Krauthäuser: Hier ist eine komplett neue Disziplin entstanden, ein Gewerbe mehr. Früher gab es den Film, das war’s. Dann gab es noch den Filmprojektor. Die Digitalität ist etwas Neues und schafft ganz andere Möglichkeiten.

 

Wir haben Anfang des Jahrtausends darüber diskutiert, ob Live-Events komplett durch das Internet ersetzt werden. Das ist nicht eingetroffen.

Roth: Der direkte Dialog zwischen den Menschen, beziehungsweise zwischen Marken und Menschen, lässt sich durch nichts ersetzen. Das braucht es auch und das lässt sich medial multiplizieren. Wie sollen denn sonst Inhalte entstehen, wenn nicht so?

Krauthäuser: Man kann nur die Sinne der Menschen ansprechen, wenn man live dabei ist. Mit den Virtual-Reality-Brillen beispielsweise ist man nah dran, aber es fehlen der Geruch, die wirkliche Nähe. Das Wahrhaftige einer Begegnung schafft man nur bei einem Live-Kontakt. Das wird sich nicht ändern.

Christian Seidenstücker, Geschäftsführer Joke Event
Christian Seidenstücker, Geschäftsführer Joke Event (Bild: Daniela Tobias)

Seidenstücker: Ich würde behaupten, je digitaler alles wird, desto größer werden die Sehnsüchte.

 

Gibt es Dinge aus den 90ern, die Sie vermissen?

Krauthäuser: Nein, eigentlich nicht. Ich finde, es hat sich total gut entwickelt. Früher war es halt anders, da gab es noch viel mehr Pioniergeist, es war mehr ein Rumprobieren, es war spannender. Das ist aber auch eine Altersfrage. Ich finde es eigentlich total toll, was so an Leuten nachwächst, und bin dankbar dafür, was man da so mitbekommt. Auch dafür braucht man eine Kultur, damit man das durchlässt, aber ich finde es spannend, was da an Neuem kommt und dies begleiten zu können. Deswegen vermisse ich nichts aus den 90ern.

Seidenstücker: Es ist anders. Jede Zeit hat ihre spannenden Dinge. Es gibt jetzt die Möglichkeit, globaler zu agieren. Meine erste Auslandsveranstaltung in den 90ern war Kampf und Aufwand, einfach schwierig. Heute ist das normal.

Roth: Die Kids sind anders. Im Alter gerät man ja schnell in den Verdacht zu sagen, dass früher alles besser gewesen sei, was ja ein No-Go ist. Aber ich sehe es bei meinen eigenen Kindern. Da entdecke ich manchmal Haltungen und Werte, bei denen ich denke: Okay, habe ich ihnen das beigebracht? Aber so ist es halt. Das haben meine Eltern wahrscheinlich auch von mir gesagt. Damit müssen wir irgendwie umgehen.

Danke für das Gespräch!

Round Table Talk - Die goldenen 90er
(Bild: Daniela Tobias)

 

Kommentar zu diesem Artikel

  1. Ich empfehle in diesem Zusammenhang unsere Dokumentation “50 Jahre KommunikationDirekt”. Die 1990er Jahre werden dort auf den Seiten 104 bis 147 abgehandelt. Mit zahlreichen Projektbeispielen sowie Zeit*Zeugen als Gastautoren von Prof. Dr. Bernd Gottschalk (Mercedes Benz) über Dr. Walter Wehrhan (EventPartner) bis Prof. Dr. Bazon Brock mit einem Beitrag über “das Erlebnis der Erschöpfung”.

    Vok Dams:
    „50 Jahre KommunikationDirekt“,
    die Erfolgsstory der direkten Zielgruppenansprache.

    http://www.amazon.de

    http://vokdamsatelierhaus.de/blog/
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