Die meisten Menschen gehen ungeprüft davon aus, dass ein virtuelles Event immer nachhaltiger ist als ein physisches. Doch ist dem wirklich so? 33 Millionen Tonnen CO2 jährlich verursachte allein Deutschland in 2018 durch den Betrieb des Internets und internetfähiger Geräte – und das bereits vor Ausbruch des Coronavirus.
Ist auch die Digitalbranche mit ihren Servern und Rechenzentren, energieintensiven Herstellung von Endgeräten und dem enormen Stromverbrauch, zu einem Umweltproblem geworden? Die Digitalisierung eines Events, eines Seminares oder eines Kongresses sollte am Ende des Tages mindestens so viel CO2-Emissionen vermeiden, wie sie verursacht, so die Ansicht von Jürgen May, Geschäftsführer von 2bdifferent, Beratungsagentur für nachhaltige Events. Noch besser wäre es natürlich, würde diese Bilanz positiv im Sinne der Nachhaltigkeit ausfallen.
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Offenlegung von Zahlen nicht möglich oder gewünscht
Doch an valide Zahlen bei der Digitalisierung von Veranstaltungen zu kommen, gestaltet sich schwierig. Die meisten Anbieter virtueller Events können oder wollen hierzu keine Daten liefern oder sich mit Jürgen May ausführlich unterhalten.
„Wo fängt man an, wo hört man auf?“, fragt auch Katrin Taepke von cueconcept, Digitalagentur für Kommunikation im Raum. Cueconcept stehen einem Vergleich der Nachhaltigkeit von virtuellen und physischen Events grundsätzlich positiv gegenüber, aber die Abgrenzbarkeit einer digitalen Veranstaltung sehen sie als ungemein schwierig an: Für die Berechnung der Nachhaltigkeit eines virtuellen Events müsse ja nicht nur der Anbieter dessen auf seine Stromrechnung gucken, sondern auch der Auftraggeber sowie wiederum dessen Kunden, die Besucher der Veranstaltung. Und hier sind die Energiebilanz der benötigten Geräte und Software auf allen Seiten wie auch die Entwicklung und der Lebenszyklus noch gar nicht berücksichtigt. „Geschweige denn der restliche Teil der Wertschöpfungskette eines digitalen Events“, fügt Jürgen May hinzu, „von den sozialen Faktoren (Einhaltung von Arbeitsrechten, Sozialstandards und Gesundheitsschutz, Geschlechtergleichstellung, geregelte Arbeitsbedingungen, Diskriminierung) bis hin zu den Ökonomischen (Einkommen, Vergütungen etc.).“
Faktencheck
Deutsche Rechenzentren verbrauchten 14 Milliarden kWh Strom (2018), gut 6% mehr als im Vorjahr – und 40% mehr als im Jahr 2010.
Der Anteil der IT-bedingten Treibhausgasemissionen wird bis 2025 auf 8% steigen – Datenzentren werden das 15-fache des heutigen Strombedarfs benötigen.
1 Suchanfrage bei Google = etwa 0,2 Gramm CO2.
3,45 Milliarden Google-Suchanfragen pro Tag = 690 Tonnen CO2 pro Tag
Oder im Vergleich: 20 Suchanfragen bei Google verbrauchen so viel Energie, dass eine LED-Lampe 2 Stunden lang brennen könnte.
Mit unserer Google-Jahresnutzung produzieren wir so viel CO2, als würden wir 155 Kilometer mit einem Fernbus fahren.
1 E-Mail = 1 Gramm CO21 Milliarde E-Mails pro Tag in Deutschland = 1.000 Tonnen CO2
1 Stunde Video-Streaming produziert so viel CO2 wie 1 Kilometer Autofahren.
Das Ansehen von YouTube-Videos durch alle Nutzer verbraucht jährlich ungefähr so viel Strom wie die 600.000 Einwohner der gesamten schottischen Stadt Glasgow.
1 Bitcoin-Transaktion = rund 819 kWh Strom
Ein Kühlschrank mit 150 Watt könnte damit etwa 8 Monate lang betrieben werden.
Das gesamte Bitcoin-System verursacht rund 22 Megatonnen CO2 pro Jahr. Das entspricht dem CO2-Fußabdruck von Städten wie Hamburg, Wien oder Las Vegas.
Siemens spart 20% seit Einführung des Digital Twin
Eine Zahl kann Taepke aber dann doch nennen: Für ihren Kunden Siemens bauen cueconcept seit 2016 einen Digital Twin des Standes für u.a. die Hannover Messe oder die SPS in Nürnberg in einer Game Engine. Diesen digitalen Zwilling nutzt Siemens vorab zuallererst für die Feinjustierung des Messestandes selbst, dann für Mitarbeiterschulungen im Vorfeld der Messe sowie später als Marketingplattform: Innerhalb von Webinaren setzen Presenter den Digital Twin für die Demonstration der Siemens-Produkte ein. Zudem ist eine abgespeckte Version auf der Website eingebettet und der digitale Zwilling ist auch per VR-Brille einsehbar. Eine direkte „Begehung“ des virtuellen Messestandes durch den Endkunden sei momentan noch nicht möglich, da die Rechenkapazitäten der meisten Endverbraucher-PCs aktuell zu gering sind.
Siemens sagt, dass sich der Aufwand für die Messeplanung seit der Einführung des Digital Twin um 20% reduziert hat. Natürlich muss man hier, sollte man selbst über einen digitalen Zwilling nachdenken, die immense Größe des Siemens-Standes auf der Hannover Messe in Betracht ziehen, und sich fragen, ab wann sich eine virtuelle Umsetzung lohnt. Plus: Ob im Sinne der Nachhaltigkeit so tatsächlich Einsparungen realisierbar sind. Denn auch Siemens hat – vor der Coronakrise – den Messestand trotzdem physisch und faktisch bauen lassen.
Verschiedene Event-Phasen, verschiedene Nachhaltigkeitsaspekte
Doch welche Faktoren für mehr Nachhaltigkeit müssen bei virtuellen Events konkret abgewägt werden? Ein Event lässt sich hierfür aufteilen: in die Planungs- bzw. Pre-Event-Phase, das Main-Event selbst und die After-Event-Phase. Bereits beim Entwurf hybrider oder virtueller Messen, von Messeständen, Kongressen, Tagungen oder Webinaren – sprich dem Requirements Engineering oder Anforderungsmanagement – sollten Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden. Denn Server-, Netzwerk- und Speichersysteme werden nicht erst in der Main-Event-Phase eines virtuellen Events beansprucht, sondern schon in der Entwicklungs- und Testphase. Genauso wie später auch durch die Übermittlung von Dokumentationsmitteln oder deren Angebot als Download Ressourcen verbraucht werden.
In allen Stufen geht es dabei nicht nur um den Betrieb aller technischen Geräte mittels Ökostroms, sondern auch um deren Produktdesign, also die technische Haltbarkeit, Wiederverwertbarkeit und Kreislauffähigkeit. Die meisten Endgeräte entstehen durch eine ausbeuterische und umweltschädliche Produktion, und weisen zudem eine viel zu kurze Lebensdauer auf, was zu großen Mengen Elektroschrott führt. Laut dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) sind im Jahr 2019 weltweit schätzungsweise über 50 Millionen Tonnen Elektroschrott angefallen. Tendenz steigend. Deutschland trägt dazu jedes Jahr etwa 1,7 Millionen Tonnen bei – Tendenz ebenfalls steigend.
Die Folgen für Mensch und Umwelt sind fatal. Mehr als die Hälfte dieses riesigen Müllbergs wird kostengünstig in Länder des globalen Südens verschifft. Dort werden die wertvollen Rohstoffe unter oft inhumanen Arbeitsbedingungen und erheblichen Umweltbelastungen rückgewonnen, die Arbeiter*innen sind dabei enormen Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Gleichzeitig stammen die mineralischen Rohstoffe, die in unseren smarten Geräten verbaut sind, zu einem Großteil aus Ländern, in denen oft nicht nur Arbeitsrechte, sondern auch Umweltstandards missachtet werden. Gleiches gilt für den gesamten Herstellungsprozess.
Digitalisierungsboom vs. Nachhaltigkeit?
Für Jürgen May stellt sich damit die Frage: Kann die Digitalisierung in der Eventbranche schlussendlich zu einer nachhaltigeren, grüneren und gerechteren Welt beitragen oder feuert der Digitalisierungsboom den Klimawandel weiter an? Ein Thema, über das sich jeder Planer von digitalen Events grundlegende Gedanken machen sollte.