Aus Kundensicht denken und Erfolg haben

Götz Werner im Interview

Götz Werner, der Gründer von dm, sieht die Wirtschaft als ein System an, das den Kunden dient und nicht umgekehrt. Um ein Unternehmen in der heutigen Zeit zu leiten, muss man aus Kundensicht denken. Begriffe wie Kundenbindung sind da gänzlich fehl am Platz. Im Interview mit EVENT PARTNER-Autor Andreas Schäfer berichtet Götz Werner von seinen Visionen. 

Götz Werner, Gründer des Drogerie-Discountmarktes dm.
Götz Werner, Gründer des Drogerie-Discountmarktes dm.

Professor Werner, Ihnen wurde im Mai in Ludwigsburg der Deutsche Corporate Social Responsibility-Preis 2014 verliehen, für Ihre Ideen zur Erneuerung der Gesellschaft. Wie muss sich unsere Gesellschaft erneuern und was können Unternehmer dazu beitragen?

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Zunächst einmal beständig. Erneuerung ist ein Prozess der nie aufhört. Es gibt viele Ansätze: Können Unternehmen weiterhin von Nachhaltigkeit sprechen und zeitgleich Millionen für Marketing-Kampagnen ausgeben, die Menschen zu überflüssigem Konsum verführen sollen? Das ist eine Frage, die heute zu selten gestellt wird. Hier kann jedes Unternehmen bei sich selbst anfangen. Eine Gesellschaft erneuert sich ja nur, wenn sich die Beteiligten verändern. Es kommt auf jeden an.

Was zeichnet einen verantwortungsvollen Unternehmer aus?

Dass er die Know-why-Frage stellt, dass er sich immer wieder fragt, warum und wozu er tätig wird. Wer über den Horizont der aktuellen Gegebenheiten hinausblickt, wer also auch die Zukunft vorwegnimmt, der hat die Folgen seiner Handlungen im Blick. Es braucht diese Fragehaltung, um beispielsweise zu erkennen, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt. Denn ohne Menschen gäbe es keine Wirtschaft.

„Wir machen den Unterschied“, steht auf den Hemden der dm-Mitarbeiter. Worin genau liegt dieser Unterschied?

In jedem einzelnen Mitarbeiter. Der Slogan soll unsere Haltung veranschaulichen, dass jeder Einzelne wichtig ist. Dazu erzähle ich Ihnen ein Erlebnis: Eines Abends, kurz vor Ladenschluss, besuchte ich einen dm-Markt und fragte die einzige Kollegin, die noch im Markt war, wie zufrieden die Kunden mit unserem Angebot seien. Sie antwortete sehr zurückhaltend und fügte hinzu: „Ich bin ja nur eine geringfügig Beschäftigte.“ Wenn unsere Kollegen in den Filialen eine solche Selbstwahrnehmung haben, wenn ihre Haltung davon abhängt, wie viele Stunden sie in der Woche arbeiten oder welchen sozialversicherungspflichtigen Status sie haben, dann haben wir verloren. Denn unsere Kunden entscheiden im Gespräch mit unseren Kollegen, ob sie wiederkommen wollen oder nicht. Für einen Kunden ist die Kollegin, die seine Frage beantwortet, der Chef. Darum müssen sich die Menschen im Unternehmen, die die Rahmenbedingungen gestalten, fragen, wie es gelingt, dass jeder bei uns erlebt: Jetzt kommt es auf mich an, ob ich den richtigen Einfall habe, um die Situation zu meistern. Diese Erlebnisse fördern Selbstbewusstsein, Authentizität, Identifikationskraft, Initiativkraft.

Weshalb setzen Sie sich als Unternehmer mit zentralen sozioökonomischen Fragen auseinander und zeigen diesbezüglich ein Engagement?

Jeder Mensch steht auf den Schultern der Gemeinschaft. Auch ein Unternehmer. Jede Leistung ist nur möglich im Kontext des gegenwärtigen Kulturstroms. Wenn ich mir das bewusst mache, dann kann ich gar nicht anders, als auch gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Hinzu kommt, dass die Kunden das auch erwarten. Sie fragen heute nicht mehr wie früher: Wo bekomme ich das richtige Produkt zur richtigen Zeit am richtigen Ort? Sie fragen auch: Wofür steht dieses Unternehmen? Sie wollen wissen, wen sie mit ihrem Kauf beauftragen. Eine Zahlung ist keine Abrechnung, sondern ein Auftrag in die Zukunft. Wer bei uns kauft, sagt uns damit: Gut gemacht, macht weiter so.

Wir leben in einer Wegwerfgesellschaft. Müssen wir uns von einem Wirtschaftsmodell verabschieden, das auf Wachstum setzt? Und ist das bisherige Marketing, was wir betreiben, nämlich der unendlichen Wunscherfüllung, noch zeitgemäß?

Da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Denn eines sollte uns allen klar sein: Erfolg hat Folgen und die Folgen des Erfolgs sind, dass wir nicht so weitermachen, wie zuvor, als wir noch nicht an diesem Punkt waren. Unsere Fähigkeit, Güter und Dienstleistungen im Überfluss hervorzubringen, hat das Wirtschaften nachhaltig verändert. Es ist an der Zeit, dass wir uns besinnen und fragen, warum und wozu wir leben.

Wie könnte ein neues Wirtschaftsmodell aussehen?

Es geht ja nicht nur um ein neues Wirtschaftsmodell, sondern um die umfassende Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wollen wir weiterhin nur Erwerbsarbeit als Arbeit anerkennen, oder sind wir bereit zu akzeptieren, dass jede Tätigkeit, die für andere erbracht wird, Arbeit ist. Das würde bedeuten, dass wir Windeln wechseln als Arbeit wertschätzen, egal ob es eine Erzieherin in der Kita bezahlt oder eine Mutter unbezahlt tut. Und wir müssten uns auch fragen, inwiefern wir einem Automechaniker oder einem Banker ein höheres Gehalt zubilligen wollen als einem Erzieher. Denn die Kinder sind die Zukunft jeder Gesellschaft.

Sie sagen, ein Unternehmen sei eine sozialkünstlerische Veranstaltung. Worin liegt diese Kunst?

Es beginnt schon damit, dass ich mir bewusst mache, dass ein Unternehmen kein Mechanismus ist, den ich mittels Regeln und Anweisungen steuern kann. Im Wirtschaftsleben sind 99 % der Probleme soziale Probleme. Wer sich klar macht, dass Unternehmensführung eine sozialkünstlerische Veranstaltung ist, der kann das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen. Wesentlich ist, dass für jeden Kollegen der Sinn des gemeinschaftlichen Handelns, das Ziel klar ist, denn nur dann kann er eigeninitiativ im Sinne des Ganzen tätig werden.

In Ihrer unternehmerischen Philosophie spielt der Begriff „Evidenz“ eine große Rolle. Könnten Sie diesen kurz erläutern?

Mit Evidenz meine ich ein Erlebnis, das mir die „innere Gewissheit“ gibt: Das ist jetzt das Richtige. Die meisten Menschen haben ein Evidenzerlebnis, wenn sie das erste Mal ihren Lebenspartner treffen. Wenn sie sich wieder von ihm trennen, haben sie Empirie. Wer in die Vergangenheit schaut, hat Empirie, wer in die Zukunft blickt, braucht die Fähigkeit zur Vorausschau. Der Vorausschau geht eine Ahnung, eine Antizipation voraus, und sobald aus der Ahnung Klarheit und Sicherheit wird, ist das Evidenz. Unternehmer handeln in die Zukunft und brauchen daher Evidenz.

Ihre Art der Unternehmensführung hat große Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ihre Mitarbeiter nehmen auch an künstlerischen Kursen und Workshops teil. Was versprechen Sie sich davon?

Ein Unternehmen entwickelt sich nur in dem Maße weiter, wie sich die Menschen im Unternehmen weiterentwickeln. Darum bieten wir unseren Kollegen unter anderem Theaterworkshops zur Persönlichkeitsentwicklung an. In der Auseinandersetzung mit Kunst können Menschen die Fähigkeit zum eigenständigen Wahrnehmen ausbauen. Und Wahrnehmung ist die Voraussetzung für Gestaltung. Probleme entstehen, wenn man ausgedachte Sachen umsetzen will, wenn man sich an seinen Vorstellungen orientiert anstatt an der Realität.

Sie setzen sehr großes Vertrauen in Ihre Mitarbeiter. Eigengestaltungskraft, Eigenverantwortung, Selbstentscheidung sind hier nur ein paar Stichworte. Ist dies ein zentraler Schlüssel erfolgreicher Unternehmensführung?

Zutrauen ist eine wesentliche Voraussetzung. Wenn ich einem Menschen Zutrauen entgegenbringe und er dies bestätigt, erwächst daraus Vertrauen. Wir leiden heute an zu viel Geringschätzung für die Leistungen anderer. Unsere arbeitsteilige Wirtschaft funktioniert aber nur, wenn sich Menschen auf Augenhöhe begegnen und sich gegenseitig etwas zutrauen. Wir sind heute mehr denn je aufeinander angewiesen.

Götz Werner vertritt die Ansicht, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt.
Götz Werner vertritt die Ansicht, dass die Wirtschaft für die Menschen da ist und nicht umgekehrt.

Ist Herr Bezos von Amazon mit seinem weltweiten Erfolg der effizienten Arbeitsameise unter ständiger Kontrolle nicht ein Gegenbeispiel?

Wir sollten zwischen Arbeit im Produktionsbereich und Arbeit für und am Menschen trennen. In der Produktion geht es darum, möglichst ressourcenschonend zu wirtschaften. Die Lebenszeit der mitarbeitenden Menschen ist dabei auch eine Ressource. In Bereichen, in denen es um mitmenschliche Zuwendung geht, wie im Beratungsgespräch mit Kunden, geht es um Großzügigkeit. Menschliche Zuwendung kann man nicht messen, nicht anordnen oder anweisen, man kann sie nur ermöglichen.

Wie vermitteln Sie Ihren Mitarbeitern, dass die Arbeit jedes Einzelnen wichtig ist?

Die Rahmenbedingungen müssen so gestaltet werden, dass der Einzelne selbst erleben kann, dass sein Beitrag nötig ist. Wenn es gelingt, dass in einem Unternehmen eine Kultur lebt, die Initiative weckt und die die Menschen ermutigt sich einzubringen, braucht die Unternehmensführung nichts zu vermitteln. Die Atmosphäre im Umfeld färbt auf die Menschen ab. Das ist wie beim Kölner Karneval oder bei einem Fußballspiel im Stadion. Im Unternehmen wirkt die Atmosphäre nicht so offenbar, aber sie wirkt trotzdem.

Für Sie sind Menschenliebe und Weltinteresse Voraussetzungen für das Unternehmersein. Sie sehen den Menschen und Mitarbeiter nicht als Mittel sondern als Zweck. Glauben Sie, Ihr Welt- und Menschenbild unterscheidet sich von dem vieler anderer Unternehmer?

Nein. Zunächst einmal hat jeder Unternehmer Weltinteresse, jeder Unternehmer will die Welt verstehen, denn er kann nur das gestalten, was er versteht. Und wer sich nicht für seine Mitmenschen interessiert, der kann ihre Bedürfnisse nicht erkennen. Es gibt sicher einige Menschen, die den Zweck ihres Unternehmens darin sehen, Gewinn zu machen oder Wachstum zu generieren. Unterbewusst handeln sie aber doch anders. Denn wer seine eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt, kann in der Wirtschaft nicht bestehen. Wer erfolgreich sein will, muss ein passendes Angebot für die Bedürfnisse seiner Kunden entwickeln. Ein Unternehmen kann nur blühen, wachsen und gedeihen, wenn dadurch anderen Menschen Möglichkeiten erwachsen. Nur dann verbinden sich Menschen mit dem Unternehmen.

Sie sagen, dass man Unmögliches für möglich halten muss, denn ohne diejenigen, die einmal davon geträumt haben zu fliegen, gäbe es heute keine Flugzeuge.

Ein Unternehmer braucht zwei Eigenschaften: Eine klare Vision und eine unendliche Liebe zum Detail. Menschen mit klaren Visionen, die immer davon reden, wie es sein sollte, finden Sie viele. Ebenso Menschen mit unendlicher Liebe zum Detail, die sich so in ihr Problem vertiefen, dass sie nicht mehr über den Tellerrand schauen können. Die Kunst besteht darin, den richtigen Rhythmus zwischen klarer Vision und unendlicher Liebe zum Detail zu finden.

Wie kann Marketing Unternehmenswerte vermitteln und zum Unternehmenserfolg beitragen, ohne dass es eine reine Alibiveranstaltung zum Kundenfang ist?

Die Beteiligten müssen vom Kunden aus denken und stets die Bedürfnisse der Kunden im Fokus haben. Dann verbietet sich auch ein Begriff wie Kundenbindung. Kein Kunde will „gebunden“ werden.

Haben Sie das Gefühl, dass Werber Sie und Ihre Art des Wirtschaftens verstehen?

Ja. Die Dinge leuchten den Menschen intuitiv ein.

Sie sagen, dass dm gescheitert wäre, wenn man nicht konsequent an den eigenen Schwächen gearbeitet hätte. An welchen Schwächen müssen wir gesamtgesellschaftlich unbedingt arbeiten, damit das Unternehmen „Menschheit“ nicht floppt?

Wir sollten sehr wachsam sein, dass die Gesellschaft nicht auseinanderdriftet – nicht nur hinsichtlich der finanziellen Möglichkeiten, sondern auch bewusstseinsmäßig. Aussagen wie „Deine Armut kotzt mich an!“ sollten uns alle alarmieren. Wenn sich die vermeintlich Starken in einer Gesellschaft nicht mehr für die gesamte Gesellschaft verantwortlich fühlen, fliegt uns unsere Gemeinschaft um die Ohren.

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