Der European Song Contest 2021 fand in Rotterdam vor 3.500 Fans statt – ohne Maske, aber durchgetestet. Möglich machte das eine Zusammenarbeit der niederländischen Regierung mit der Eventbranche.
(Bild: Ralph Larmann)
Der Anblick ist gleichzeitig vertraut und ungewohnt: Nachdem die Eurovisions-Hymne den Eurovision Song Contest 2021 in Rotterdam eröffnet hat, sehen die Zuschauer:innen vor den Fernsehgeräten die vollen Ränge der Ahoy-Arena. Keine Pappaufsteller, keine Stuhlreihen auf Abstand – Menschen sitzen direkt nebeneinander, wedeln mit Fahnen oder Schildern und strahlen ohne Mund-Nase-Schutz in die Kameras. Blendet man den eher leeren Innenraum der Arena aus, in dem vereinzelte Sofa-Landschaften stehen, könnte man fast meinen, Corona wäre kein Thema mehr. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Denn damit der ESC nach der Absage 2020 dieses Jahr vor Publikum stattfinden konnte, benötigte es viel organisatorische und technische Vorbereitung abseits der klassischen Gewerke wie Licht, Video und Ton.
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Regierung & Eventindustrie entwickeln Handlungsrahmen
Der Eurovision Song Contest sollte dieses Jahr nicht nur den besten Song Europas küren, sondern diente auch als Feldversuch für Fieldlab Events, das von der niederländischen Veranstaltungswirtschaft in Zusammenarbeit mit der niederländischen Regierung gegründet wurde. Das Ziel ist es, Kultur- und Sportveranstaltungen in Coronazeiten wissenschaftlich und sicher durchzuführen, die Erkenntnisse für bessere Regulierungen zu nutzen und so die Eventbranche bis zum Restart zu unterstützen. Indem man vereinzelte Veranstaltungen durchführt und die Wirkungsweisen verschiedener Regularien (Testpflicht, Kapazitätsgrenzen, Temperaturmessung usw.) in der Praxis untersucht, möchte man sogenannte „Building Blocks“ entwickeln, die sowohl der Regierung als auch Veranstalter:innen bei der zukünftigen Planung helfen. Seit Februar fanden verschiedene Events statt: von Theaterstücken über Fußballspiele bis hin zu Tanzveranstaltungen und Konzerten – mal indoor, mal outdoor, mit festen Sitzplätzen oder Stehplätzen und viel Bewegung. Die Kosten wurden laut Dimitri Bonthuis, Director bei Fieldlab Events, geteilt: Die Regierung übernahm die Finanzierung der Tests und der wissenschaftlichen Auswertung, die Eventindustrie kümmerte sich um die Organisation der Testungen.
Beim ESC legt man das Augenmerk vor allem darauf, wie die Leute untereinander in Kontakt treten und ob sich die bisherigen Erkenntnisse und Datensätze auch auf größere Teilnehmendenzahlen skalieren lassen. Das Ergebnis der Studienreihe sind Handlungsrahmen, die den verschiedenen Modellen der deutschen Verbände ähneln, allerdings auf praxisnahen Erkenntnissen und Empirie beruhen. Zwar gab es auch in Deutschland einzelne Versuche mit Großveranstaltungen, aber ein organisiertes Vorgehen wie in den Niederlanden blieb bisher aus. Auch zu einer zielgerichteten Zusammenarbeit zwischen der Regierung mit ihren verschiedenen Ministerien und der Veranstaltungswirtschaft kam es in Deutschland nicht.
Maßnahmen beim ESC
Fans des European Song Contest dürfte dieser Zusammenschluss gefreut haben, sicherte er doch die Publikumspräsenz bei Vorrunden, Proben und der Finalveranstaltung. Die Durchführung war aber für alle Beteiligten aufwändiger als noch vor Corona-Zeiten. Wie bei vielen Konzerten und Shows waren die Tickets personalisiert: Neben der Eindämmung des Schwarzmarktes ist so eine Nachverfolgbarkeit der Teilnehmenden gewährleistet. Nach dem Kauf und der Personalisierung wird das Ticket in der App „Close“ hochgeladen. Die App fungiert als wichtiger Begleiter für alle Gäste: Neben dem Ticket transportiert sie Informationen über den genauen Ablauf am Veranstaltungstag, dient als Vermittlung für Teststellen und ist der generelle Kontakt zu den Gästen. Am Veranstaltungstag selber werden per App vier Stunden vor Showbeginn allen Zuschauer:innen sogenannte Triage-Fragen gestellt: „Haben Sie Fieber?“, „Hatten Sie Kontakt zu positiv getesteten Personen?“ etc. Fieldlab Events hat im Laufe seiner Versuche herausgefunden, dass eine Beantwortung dieser Fragen im Voraus sinniger ist als beim Einlass, da es dadurch nur zu unnötigem Personenstau kommt. Außerdem könnten möglicherweise schon kranke Personen durch das Beantworten der Fragen vom Besuch absehen. Interessant: Jegliche Risikogruppen (z.B. Personen über 70) waren schon vorab von der Teilnahme ausgeschlossen.
Per „Close“ bekommen Zuschauer:innen außerdem ihren festen Einlass-Slot zugeteilt. So sollen lange Schlangen vor der Arena vermieden werden, denn auch der Einlass benötigt mehr Zeit: Die negativen Corona-Tests müssen kontrolliert werden. Pauschal habe man für die Testvorlage laut Bonthuis 20 Sekunden pro Teilnehmenden extra eingeplant. Der gesamte Einlass beim ESC dauerte dann anderthalb Stunden. Alle Besucher:innen müssen im Rahmen der Maßnahmen ein maximal 24 Stunden altes Testergebnis vorlegen. Das darf nur von offiziellen Teststellen stammen, für die man über die „Close“-App einen Termin buchen kann. Das Testergebnis selbst wird dann über die App „CoronaCheck“ präsentiert. Beide Apps sind für die Show Pflicht: Fans ohne Smartphone können ihr Testergebnis zwar ausdrucken, müssen sich aber einer Gruppe mit „Close“-App anschließen.
In der Warteschlange, in der Arena und auch beim Getränke- und Snack-Kauf herrscht Maskenpflicht. Am eigenen Platz jedoch dürfen die Zuschauer:innen die Masken abnehmen und sich ohne einen Mindestabstand dem Live-Erlebnis hingeben. Damit es in den Umläufen der Arena nicht zu Ansammlungen kommt, habe man auf ein intelligentes Design von Laufwegen geachtet und zusätzliches Personal eingesetzt. Dimitri Bonthuis zeigt sich allerdings zufrieden: Alle Fans hätten sich vorbildlich benommen und sich an die Regeln gehalten. Während des Events habe man auch per Videoüberwachung und App-Tracking einen Überblick über die Begegnungen der Personen gehabt.
Regeln für die Produktion
Doch nicht nur die Zuschauer:innen mussten sich an besondere Regeln halten, der ganze ESC stand im Zeichen strenger Corona-Vorgaben. Die Größe der Delegationen aus den verschiedenen Ländern wurde auf 20 Leute begrenzt, alle Acts und das dazugehörige Team durften sich nur in der eigenen Bubble aufhalten. Die Anzahl der freiwilligen Helfer wurde auf 650 gedeckelt und mit 500 Journalisten war auch nur ein Drittel der sonst anwesenden Presse vor Ort. Auch beim Live-Kommentar wurde reduziert: Nur einige Sendeanstalten waren in der Arena, für Deutschland kommentierte Peter Urban diesmal aus Deutschland. Alle Beteiligten wurden jeden zweiten Tag getestet, nur so war eine tagesaktuelle Akkreditierung möglich. Zum Einsatz kamen neuartige Puste-Tests, allerdings wiesen diese eine hohe Ungenauigkeit auf, sodass oft doch auf die bekannten Schnelltest-Arten zurückgegriffen wurde. Insgesamt wurden im Zeitraum der Produktion vom 6. April bis zum 20. Mai ca. 24.400 Tests durchgeführt. Die in dem Zeitraum gemeldeten 16 positiven Tests (0,06 %) sollen sich nicht während der Produktion, sondern bereits vorher angesteckt haben.
Optimistisches Zeichen
Ein genaues Ergebnis von Fieldlab Events aus dem „Experiment Eurovision Song Contest“ stand zu Redaktionsschluss noch aus. Die Schlagzeilen dominierten allerdings nur die italienischen Gewinner und die guten sowie skurrilen Beiträge anderer teilnehmender Länder. In den Niederlanden fallen die Inzidenzwerte genau wie in den meisten anderen europäischen Ländern; ein Superspreader-Event war der ESC 2021 also nicht. Ganz ohne Corona-Beeinträchtigungen kam die Show dann trotzdem nicht aus: Da eines der Bandmitglieder positiv getestet wurde, musste die Band um den Künstler Daði Freyr die Live-Show in Hotel-Quarantäne verbringen, stattdessen wurde eine mitgeschnittene Probe gesendet. Auch Duncan Lawrence, der 2019 als Sieger den ESC in die Niederlande holte, konnte wegen eines positiven Tests nicht auftreten.
Das Fazit von Dimitro Bonthuis fällt gut aus: Alle geplanten Mechanismen hätten funktioniert. Nur bei der Installation und Einrichtung der Apps auf den Endgeräten der Teilnehmenden wäre teilweise mehr Unterstützung notwendig gewesen. Der Stimmung tat dies keinen Abbruch: Die Künstler:innen im Innenraum und die Zuschauer:innen auf den Rängen feierten ausgelassen ohne Masken. Ein Bild, das einen Corona fast vergessen lässt und Hoffnung macht auf einen baldigen Restart für Events.