Trotz eines seit Monaten existierenden Verbots von (Groß-)Veranstaltungen fehlen bis heute konkrete Fakten zu den Risiken einer SARS-CoV-2-Infektion bei temporären Menschenansammlungen. Ein Experiment der Universitätsmedizin Halle (Saale) soll Zahlen und Daten liefern.
Die Aussichten und Perspektiven sind deprimierend: Trotz eines bereits mehrmonatigen Berufsverbots hat sich die Situation der Veranstaltungsbranche bis heute praktisch kaum gebessert. Dementsprechend positiv war daher die Meldung, dass die Unimedizin Halle (Saale) in Kooperation mit der ZSL Betreibergesellschaft mbH der Quarterback Immobilien Arena Leipzig und unterstützt durch den Handball-Bundesligisten SC DHfK Leipzig am 22. August dieses Jahres ein Großexperiment durchführen möchte, um „das Risiko für die Entstehung eines Ausbruchs mit COVID-19 durch eine Hallen-Großveranstaltung zu berechnen und Lösungsmöglichkeiten für die Wiederaufnahme solcher Events aufzuzeigen“ – somit also der erste Versuch, wissenschaftlich belastbare Zahlen und Daten als Basis für mögliche Lockerungen, ggf. aber auch notwendige Verbote zu generieren.
Hintergründe zur Studie
Der Name „RESTART-19“ leitet sich aus dem englischen Untertitel „Risk prEdiction of indoor SporTs And cultuRe events for the Transmission of COVID-19“ ab und bedeutet übersetzt also in etwa „Risikovorhersage einer COVID-19-Übertragung bei Sport- und Kulturveranstaltungen in geschlossenen Räumen“.
Ein etwas weitgreifender Titel, geht es doch primär darum, evidenzbasiert und mit wissenschaftlichem Studiendesign endlich objektive Zahlen und Daten bezüglich potenziell übertragungsrelevanter Situationen und Bereiche bei Indoor-Veranstaltungen zu ermitteln, zu erfassen und auszuwerten. Ob und in welcher Tragweite ein möglicherweise eingeschleppter SARS-CoV-2-Virus tatsächlich übertragen wird, es anschließend zu einem Ausbruch von COVID-19 kommt und welchen Verlauf die Krankheit letztlich nimmt – darüber kann und wird die Studie keine Aussage machen können.
Dennoch bietet RESTART-19 erstmalig seit Ausbruch der Pandemie die Möglichkeit, das Stigma (Groß-)Veranstaltung bzw. Indoor-Veranstaltung zu beenden und eine wissenschaftliche Grundlage für weitere Maßnahmen und Lockerungen, im ungünstigen Fall aber auch für weitere Verbote zu erhalten.
Die gesamte Studie besteht aus mehreren Teilprojekten, das bereits erwähnte Experiment einer Konzertsimulation in der Arena Leipzig war dabei nur der sichtbarste und öffentlichkeitswirksamste Teil des Projektes. Darüber hinaus gab es im Vorfeld – mit rund drei Wochen Netto-Rechenzeit pro Durchlauf – bereits extrem komplexe Computer-Simulationen der Aerosolbildung und -verteilung in der Halle, ein Abgleich und Validierung der theoretischen Überlegungen mit den in der Praxis erhobenen Daten steht noch aus. Ziel ist die Entwicklung eines mathematischen Modells zur Risikoabschätzung und der Festlegung von Rahmenbedingungen für Großveranstaltungen.
Finanziert wird die knapp eine Million teure Studie von den Ländern Sachsen-Anhalt und Sachsen sowie aus Eigenmitteln der Universitätsmedizin Halle (Saale), mit ersten Ergebnissen ist nicht vor Herbst 2020 zu rechnen.
Die Konzertsimulation als zentraler Bestandteil der Studie sah vor, rund 4.200 Probanden in mehreren kurzen Konzert-Szenarien zu beobachten und Daten zu Kontakten, Oberflächenkontamination und Aerosolbildung zu sammeln. Singer-Songwriter Tim Bendzko konnte dafür gewonnen werden, den Gästen ein nahezu echtes Konzertfeeling zu vermitteln, darüber hinaus fungierte er gleichermaßen auch als Werbefigur, Lockmittel und Dankeschön in Personalunion.
Um dieses Experiment überhaupt durchführen zu können, wurden seitens des eingebundenen Ethikrates und der genehmigenden Behörden, nicht zuletzt aber auch vom Studienleiter der Unimedizin Halle (Saale), Dr. Stefan Moritz, hohe Auflagen gefordert und umgesetzt, um die Gefahr einer Übertragung mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausschließen zu können.
Dies begann bereits mit einem rigorosen Ausschlussverfahren bei der Registrierung als Teilnehmer – zum Versuch zugelassen wurden nur gesunde Probanden im Alter zwischen 18 und 50 Jahren ohne Vorerkrankungen am Herz-Kreislauf-System oder der Lunge sowie einem Body-Mass-Index von unter 30. Weiterhin verhinderte ein Kontakt zu COVID-19 erkrankten Personen sowie der Aufenthalt in einem Risikogebiet innerhalb der letzten 14 Tage vor dem Experiment die Teilnahme.
Darüber hinaus wurde jedem Teilnehmer ein Testkit für einen Corona-Selbsttest zugesandt, der maximal 48 Stunden vor der Simulation erfolgen musste. Ein positives Testergebnis ebenso wie das Auftreten von COVID19-Symptomen führte zum Ausschluss von der Veranstaltung.
Vor Ort erfolgte beim Check-in noch eine kontaktlose Fiebermessung bei allen Probanden sowie die Ausgabe von Desinfektionslösung und einer FFP2-Maske, die innerhalb der Arena ständig getragen werden musste. Schlussendlich galten – wie überall – die klassischen Hygiene- und Infektionsschutzregeln wie Handhygiene, Niesetikette und Abstandsregelungen, soweit letztere nicht gezielt in den einzelnen Simulationen unterschritten werden sollten.
Auf die Einhaltung der Regelungen achteten neben dem Ordnungsdienst auch zahlreiche, zusätzlich aus studentischen Reihen rekrutierte „Hygiene-Stewards“.
All der Kritiker zum Trotz kann und muss man den handelnden Personen hier ein gleichermaßen umfangreiches Verantwortungsbewusstsein und dem Experiment ein sehr hohes Sicherheitslevel bescheinigen, auch wenn einige Bausteine – wie der ohne medizinische Unterstützung durchgeführte Selbsttest oder die lokale Fiebermessung – ohne den Gesamt-Kontext des Konzeptes durchaus kritisierbar wären.
Welche Daten wurden erhoben?
Bei der Studie ging es vor allem darum, wissenschaftlich fundierte Zahlen und Daten zur Beurteilung der drei möglichen Übertragungswege von SARS-CoV-2 auf Veranstaltungen zu erheben.
Schmierinfektionen, also die Übertragung des Virus durch Kontakt zu kontaminierten Oberflächen, beispielsweise über Türklinken, Handläufe und Theken, aber auch beim Händeschütteln oder anderweitigem Körperkontakt, ist nach aktuellem Kenntnisstand nicht die relevanteste Übertragungsform von SARS-CoV-2. Dennoch wurde versucht, häufig berührte und dadurch potenziell gefährliche Oberflächen zu identifizieren. Dies erfolgte durch einen fluoreszierenden Zusatz in den für die Probanden zur Verfügung gestellten Desinfektionsmitteln – so konnten im Nachgang unter UV-Licht stark belastete Oberflächen gefunden, beurteilt und mit den Erwartungen abgeglichen werden.
Um die Übertragung durch Aerosole zu veranschaulichen, wurden den Teilnehmern während des ersten Briefings mittels Nebelmaschine die Luftbewegungen in der Halle bei unterschiedlichen Stellungen der Auswurfdüsen der Hallen-Lüftungsanlage sichtbar gemacht. Die eigentliche Beurteilung der Übertragung durch Aerosole wurde allerdings nicht durch den Verlauf von Nebelschwaden, sondern primär durch eine Computer-Simulation mit 4.000 virtuellen, permanent Aerosole ausatmenden Besuchern erstellt. Verifiziert wird dieses Computer-Modell nun im Nachgang durch den Abgleich theoretischer mit den realen Werten von neun Kohlendioxid-Sensoren, die im Verlauf des Studientages stetig Daten gesammelt haben.
Kernstück des Experiments aber war die Beurteilung der Kontakte bei Veranstaltungen, also die Erfassung von Häufigkeit, Distanz und zeitlicher Dauer von Begegnungen – bereits bei der Anreise mittels ÖPNV sowie in der Arena selbst, beispielsweise dem Zuschauerraum, vor Catering-Theken, in Foyers oder vor Toiletten.
Zu diesem Zweck enthielt das „Welcome-Paket“ der Teilnehmer auch einen „Contact Tracer“, also einen mittels Lanyard am Hals zu tragenden Sensor. In Kombination mit rund 30 in der Halle sowie einigen in der Straßenbahn verteilten Ankern erzeugte das System so rund vier Terrabyte CSV-Daten – und dies, obwohl man bereits einen Algorithmus zur Datenreduktion integriert hatte, der aus allen aufgezeichneten „Kontakten“ erst nach Unter- oder Überschreitung einer Distanz von 1,5 m sowie erst ab einer gewissen Kontaktdauer ein studienrelevantes „Ereignis“ machte.
Auch wenn am Ende von den rund 2.200 Anmeldungen nur rund 1.900 Personen getestet und schließlich nur rund 1.500 Probanden mit dem zentralen Tool des Experiments ausgestattet wurden – es reichte für „eine Datenbasis, mit der wir sehr gut arbeiten können“, so Studienleiter Dr. Stefan Moritz in einem ersten Fazit während der Pressekonferenz am Nachmittag der Konzertsimulation.
Drei Szenarien
Das Experiment war neben den globalen Faktoren wie An- und Abreise sowie Ein- und Auslass in insgesamt drei Szenarien unterteilt, die über den Tag verteilt stattfanden. Jedes Szenario simulierte dabei die identische Veranstaltung unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen. Neben der Erfassung der bereits beschriebenen Daten ging es also vor allem auch darum, Unterschiede und Wirksamkeit verschiedener Hygiene- und Infektionsschutzvorgaben zu dokumentieren.
Bild: Stefan Junker
Szenario 1 entsprach einem Konzert in Zeiten vor Corona, alle Besucher nutzten also die gleichen Ein- und Ausgänge, saßen ohne jeglichen Abstand in den Stuhlreihen.
Bild: Stefan Junker
Simulierte Pause in Szenario 1,
auch hier wahrte das
Publikum keinerlei Distanz.
Bild: Stefan Junker
Szenario 2 brachte die ersten Corona-Verschärfungen ins Spiel: Besucherblöcke wurden beispielsweise hinsichtlich der Zugänge getrennt.
Bild: Stefan Junker
Szenario 3: Hier wurde durch ein umfangreiches
Hygienekonzept der Mindestabstand von 1,5 m unter allen Umständen gewahrt.
Jedes Szenario bestand aus drei Blöcken, also je zwei ca. 20-minütigen Kurz-Konzerten von Tim Bendzko sowie einer dazwischenliegenden Pause. Alle Teilnehmer waren dabei angehalten, sich sowohl während der Konzert- als auch der Pausenphase möglichst authentisch zu verhalten – ausgelassenes Feiern trotz Maske, Schlangestehen in der Pause und Toilettengänge trotz der kurzen Intervalle zwischen den Szenarien. Da das Essen und Trinken in der Arena aus Sicherheitsgründen untersagt war, simulierten die Besucher während der Pausenblöcke das Schlangestehen vor den Indoor-Ausgabecountern und bekamen dort lediglich „Gutscheine“ für „echtes Essen“. Dieses wurde zwischen den Szenarien an eigens dafür errichteten Imbissstationen im Freien vor der Arena ausgegeben und konnte dort mit ausreichend Abstand verzehrt werden.
Die Szenarien selbst orientierten sich an einer gedanklichen Zeitachse. Szenario 1 entsprach einem Konzert in Zeiten vor Corona, alle Besucher nutzten also die gleichen Ein- und Ausgänge, saßen ohne jeglichen Abstand in den Stuhlreihen und wahrten auch während der simulierten Pause keinerlei Distanz.
Szenario 2 brachte die ersten Corona-Verschärfungen ins Spiel, Besucherblöcke wurden hinsichtlich Zugängen getrennt, neben jedem Sitzplatz wurde ein Platz leer gelassen, die jeweilige Reihe dahinter entsprechend versetzt belegt. Im letzten und aktuell wohl einzig vorstellbaren Szenario 3 wurde durch ein umfangreiches Hygienekonzept der Mindestabstand von 1,5 m unter allen Umständen gewahrt, neben jedem als Pärchenvariante ausgelegten Sitzplatz herrschte im Radius von 1,5 m gähnende Leere.
Interessant dabei war, dass die Stimmung im Publikum mit steigender Sicherheit tendenziell indirekt proportional zu sinken schien – in vielen Gesprächen mit Teilnehmern schien hier Variante 2 der ideale Kompromiss aus gefühlter Sicherheit und gewohnter Konzertatmosphäre darzustellen – in wieweit hier letztlich die gewonnenen Daten Möglichkeiten bieten oder nicht, bleibt leider noch etwas abzuwarten.
Ausschnitte aus den Bestuhlungsplänen für die unterschiedlichen Szenarien
Bild: Stefan Junker
Szenario 1: ohne Corona-bedingte Maßnahmen
Bild: Stefan Junker
Szenario 2: versetzte Belegung und geringer Abstand
Bild: Stefan Junker
Szenario 3: strenge Abstandsregelung
Fazit: endlich fundierte Veranstaltungsfakten
Neben einer für den angestrebten Erkenntnisgewinn ausreichenden Datenbasis hat man mit der Studie vor allem eines erreicht: Es findet endlich mehr Wissenschaft im Bereich von Großveranstaltungen statt – laut Dr. Moritz gibt es aktuell bereits Anfragen aus Australien, Belgien und Dänemark, die nun ähnliche Studien planen.
Es bleibt also zu hoffen, dass einerseits die Ergebnisse endlich eine evidenzbasierte Grundlage für die Wirksamkeit von Infektionsschutz- und Hygienemaßnahmen bieten sowie als direkte Folge davon die Durchführbarkeit bestimmter Veranstaltungsformate unter klar definierten Bedingungen ermöglichen. Andererseits scheint mit RESTART-19 auch eine lange überfällige, wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema „Veranstaltung“ in Gang gesetzt worden zu sein, in deren Verlauf eine Sache klar zum Vorschein kommen wird: Eine Pauschalisierung von Veranstaltungen ohne differenzierte Betrachtung der unterschiedlichsten Formate, Anlässe, Darbietungen, räumlichen Gegebenheiten, Besucherzahlen und Publikumszusammensetzungen ist wissenschaftlicher wie auch politischer Unsinn! [13613]