Veranstaltungen in Corona-Zeiten: Schein oder Sein, ist hier die Frage
Veranstaltungen in Corona-Zeiten: Schein oder Sein, ist hier die Frage
von Dr. Frank Mücke, Artikel aus dem Archiv
1:3 oder 1:2? 4 qm oder 3 qm? 1,20 m oder 2,40 m? Diese Parameter entscheiden, wenn es derzeit um den Mindestabstand und die Personendichte bei Veranstaltungen geht. Wo kommen die Maße her? Wie sind sie begründet? Sind sie zwingend oder nice to have? Es scheint alles klar zu sein. Aber ist es das auch?
(Bild: myboys.me - stock.adobe.com)
Um Wege aus dem Lockdown aufzuzeigen, haben sich Schwergewichte der Veranstaltungs-Branche bereits positioniert: EVVC am 24. April und R.I.F.E.L. am 28. April. Beide haben die gleiche Stoßrichtung, weisen aber auch deutliche Unterschiede auf. Von Tagungshäusern liegen erste Bestuhlungspläne im Corona-Modus vor. Das erlaubt überschlägige Berechnungen zur Betriebswirtschaft.
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Macht das eigentlich wirklich Sinn?
In der ersten Maiwoche hat die Politik „Grünes Licht“ für Veranstaltungen gegeben. Sie sind unter „strengen Auflagen“ wieder möglich. Großveranstaltungen (Frage: Wann ist eine Veranstaltung eigentlich eine Großveranstaltung?) sind bundesweit bis mindestens Oktober verboten. Alles darunter können die Länder individuell regeln. Nach aktuellem Stand haben wir es mit einem Teppich aus 16 Flicken zu tun und einer Unzahl von lokoregionalen Regelungen.
Die unterschiedlichen Positionen von EVVC und R.I.F.E.L. könnte man auf sich beruhen lassen, wenn davon für Tagungshäuser, Hotels, Veranstalter, Dienstleister und Besucher/Teilnehmer nicht so viel abhinge. Es geht um Kapazitäten und Kosten, um Aufwand und Ertrag. Die Frage drängt sich auf: Macht die Öffnung einer Tagungsstätte im Corona-Modus für den Betreiber wirklich Sinn, wenn mit dem (eingeschränkten) Betrieb eigentlich nur Geld „verbrannt“ wird und es am Ende des Tages billiger wäre, die Türen weiterhin geschlossen zu halten?
Der Corona-Modus der Unklarheiten
Mindestabstand und Hygienestandards – beide Forderungen ziehen sich gebetsmühlenartig durch alle Verordnungen und Diskussionen. Beide scheinen unkritisch zu sein. Dabei sind viele Details noch offen und bedürfen rasch der Klärung. Schon jetzt findet sich im Internet eine kaum mehr zu überblickende Flut von Stellungnahmen, Fahrplänen und Vorgaben. Manches hat eine sehr kurze Halbwertzeit, wenn Positionen und (vermeintliche) Fakten von den politischen Entscheidungen in rascher Folge überrollt werden.
Als Mindestabstand wird allseits 1,5 m gefordert. Was bedeuten 1,5 m in der praktischen Umsetzung und speziell für Indoor-Veranstaltungen in genehmigten Versammlungsstätten? Z. B. für Seminare, Workshops, Tagungen, (Fach-) Messen und (Fach-) Kongresse.
Heiteres Abstandsraten: Bestuhlung
Starten wir mit der Reihenbestuhlung. Nachfolgend heißt es „Nutz-Stuhl“ – dieser Stuhl ist zur Nutzung durch eine(n) Besucher*in / Teilnehmer*in vorgesehen. Im Gegensatz dazu sind „Leer-Stühle“ die gesperrten Stühle, die nicht belegt werden dürfen, um den nötigen Mindestabstand sicherzustellen. Für die Modellierung wird gemäß § 10 Abs. 3 M-VStättVO eine Stuhlbreite von 50 cm zugrunde gelegt.
R.I.F.E.L. misst den Abstand 1,5 m bei der Musterplanung von Stuhlmitte zu Stuhlmitte. Auf einen Nutz-Stuhl folgen zwei Leer-Stühle usw.. In dem Modell sind die Stühle 55 cm breit. Bei zwei Leer-Stühlen beträgt der Abstand zwischen zwei Nutz-Stühlen, von Schulter zu Schulter, 2 x 55 cm = 1,1 m. Somit wird bei dieser Bestuhlung der Mindestabstand von 1,5 m deutlich unterschritten. D. h, dieser Bestuhlungsplan ist nach den neuen Standards im Corona-Modus so nicht genehmigungsfähig.
Anders dagegen EVVC am Beispiel der Rheingoldhalle. Die Grafik weist drei Leer-Stühle zwischen zwei Nutz-Stühlen aus. Geht man von 50 cm Stuhlbreite aus, dann ergeben drei Leer-Stühle à 0,5 m exakt den erforderlichen Mindestabstand von 1,5 m zwischen zwei Nachbarn – von Schulter zu Schulter.
Eine explizite Erklärung für die Nutzformeln 1:3 bzw. 1:2 wird nicht geliefert. Die Lösung erschließt sich aber über die Fläche.
Das Strategiepapier von EVVC/Löhr weist auf Seite 7 einen Flächenbedarf von Minimum 4 qm/Besucher bzw. Teilnehmer aus. Gemessen werden von der Körpermitte jeweils 1 m in der Breite und Tiefe. Das ergibt vier Quadranten mit der Kantenlänge 1 m – gesamt 4 qm.
Zieht man von der Körper-Breitenachse mit 2,0 m Länge den Mindestabstand mit 1,5 m ab, verbleiben 50 cm. Die Erklärung für diese 50 cm kann Oberhagemann liefern:
„Nach Weidmann hat ein Zentraleuropäer einen Mindestplatzbedarf von 0,085 qm. Dieser ergibt sich aus einer Projektion des menschlichen Körpers auf den Boden in Form einer Ellipse.“ Gemäß Abbildung betragen die Körperproportionen 50 cm in der Breite und 30 cm in der Tiefe (Oberhagemann, 2012).
Offensichtlich wird für die Messung des Mindestabstandes von unterschiedlichen Messpunkten ausgegangen: EVVC vom Körperaußen und R.I.F.E.L. von der Körpermitte. Das sind die 50 cm, die beide trennen.
Ein direkter Vergleich zeigt die dramatischen Konsequenzen für das maximale Fassungsvermögen. Mit der Abstandsregel von mindestens 1,5 m hat der Verordnungsgeber offensichtlich auf die lichte Weite abgehoben. Und die bemisst sich nun mal von Körperaußen zu Körperaußen. Bereits in der M-VStättVO heißt es in § 10 Abs. 3 Satz 2: „Zwischen den Sitzplatzreihen muss eine lichte Durchgangsbreite von mindestens 0,40 m vorhanden sein“. Im SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard des BMAS vom 16.04.2020 wird stets ein Mindestabstand von 1,5 m zu anderen Personen verlangt. Einen Mindestabstand von 1,5 m zu bzw. zwischen (anderen) Personen verlangt z. B. auch die Coronaschutzverordnung von NRW. Gestützt wird diese Sicht vom Robert Koch-Institut. Eine Grafik zeigt, dass der Mindestabstand von 1,5 m als lichte Weite zwischen den Personen zu verstehen ist.
Fazit: Der Abstand von Minimum 1,5 m ist die lichte Weite zwischen Personen und bemisst sich von Körperaußen zu Körperaußen.
mainzplus CITYMARKETING hat für die Rheingoldhalle und andere Locations in Mainz neue Bestuhlungspläne ins Netz gestellt. (Damit sind die Mainzer vielen Tagungsstätten ein gutes Stück voraus!). Angewendet wird die korrekte Nutzformel 1:3. Im Corona-Modus hat der Gutenbergsaal bei Parlamentsbestuhlung Platz für 168 Personen statt 648 Plätzen in der „alten Version“ nach VStättVO. Das ist nur noch etwas mehr als ein Viertel. In Stuhlreihen bzw. bei Einzelplatzbestuhlung mit 1,5 m Stuhlabstand fasst der Gutenbergsaal gemäß der Nutzformel 1:3 lediglich 195 Personen statt ursprünglich 1.260 Personen. Das ist etwas mehr als ein Siebentel der ursprünglichen Kapazität. Was für dramatische Einbußen!
Legt man bei einer verallgemeinernden Modellierung Tischmaße von 200 x 50 cm zugrunde und platziert einen Teilnehmer mittig am Tisch, dann können die Tische in der Tischreihe ohne Abstand gestellt werden (50 cm Körperquerachse/ Stuhlbreite zzgl. je 75 cm zu beiden Seiten = 200 cm). Der Abstand zwischen den Tischreihen müsste nur um 10 cm vergrößert werden, um das lichte Abstandsmaß zu erreichen (50 cm Tisch + 50 cm Stuhl + 40 cm Reihenabstand nach M-VStättVO + 10 cm on top = 150 cm).
R.I.F.E.L.
Für einen fiktiven Saal werden zwei Musterbestuhlungen aufgeplant (Siehe nachfolgende Grafik). Nach VStättVOStandard fasst der Saal 442 Besucher in Stuhlreihen, bei einer Stuhlbreite von 55 cm und einer Gangbreite von 45 cm (gesamt 100 cm). Im Corona-Modus haben 96 Besucher Platz. Das ist etwas weniger als 22% der Kapazität gemäß M-VStättVO.
Beim geforderten Mindestabstand von 1,5 m wäre unter Beibehaltung der Stuhlbreite von 55 cm die lichte Weite zwischen zwei Nutz-Stühlen entsprechend der Nutzformel 1:3 auf drei Leer-Stühle zu erhöhen, hier 165 cm. Die maximale Belegungskapazität würde sich auf 88 Pax reduzieren.
Von der Breite zur Fläche
R.I.F.E.L. legt für die Bemessung 3 qm/Besucher zugrunde (S. 5), ohne dass dieser Wert im Text begründet wird oder sich unmittelbar ableiten lässt. Weiterhin wird auf S. 11 ein Sicherheitszuschlag von 20% empfohlen. Auch dies ohne Begründung. Mit 3,6 qm nähert sich die Personendichte von R.I.F.E.L. der von EVVC/Löhr genannten an.
EVVC/Löhr gehen bei ihrem Maßnahmenkonzept von einer Fläche mit 4 qm/Besucher aus. Dieses Maß wird in der Präsentation nicht begründet, ist aber rational nachvollziehbar (s.o.).
Weiterhin schlagen EVVC/Löhr vor, die Gangbreite nach M-VStättVO von 1,20 m auf 2,40 m zu verdoppeln. Das kann man machen! Aber muss man das auch machen? Breitere Gänge bedeuten abermals geringere Kapazitäten. Warum? Erleichtert dieses Angebot den Weg aus dem Lockdown? Macht dieser Schritt der Politik die Entscheidung leichter, die Sperre für (Groß-)Veranstaltungen früher aufzuheben bzw. niedrigere Auflagen zu erteilen? Und letztlich die Frage: Kommen wir von der doppelten Gangbreite in der Nach-Corona-Zeit wieder runter, wenn sich der neue Standard erst einmal etabliert hat?
In jedem Fall hätte die Verbreiterung der Gänge zur Folge, dass sich die maximale Personenzahl weiter reduziert. Die Konsequenzen für Betreiber und Veranstalter liegen auf der Hand.
Ist mehr besser? Höhere Kosten, geringere Margen…
Im Vorwort von R.I.F.E.L. (S. 2) wird dargelegt: „Es wird strikt angeraten, dass diese Empfehlungen als verbindliche Checkliste für Veranstalter dienen. […] Daher ist die Messlatte dieser Empfehlung nicht die Erfüllung, sondern die Übererfüllung behördlicher und institutioneller Vorgaben“. Da drängt sich die Frage auf: Sollen diese „verbindlichen Empfehlungen“ für die Veranstaltungsbranche zum neuen „Stand der Technik“ werden?
Minimum 1,5 m lichtes Maß als Sicherheitsabstand, 4 qm Fläche pro Person, 1,2 m bzw. 2,4 m Gangbreite und dazu ggf. noch weitergehende Einschränkungen bzw. Auflagen durch die Ordnungs-/ Gesundheitsbehörden vor Ort. Im Corona-Modus steht nur noch ein Bruchteil der Flächen und Teilnehmerkapazitäten zur Verfügung wie in der Vor-Corona-Zeit gemäß M-VStättVO. Das bedeutet unter dem Strich – höhere Kosten, geringere Margen.
Die Folgen sind klar: Erlöse aus Teilnehmergebühren, Eintrittsgeldern, Industrieausstellungen u. a. m. brechen zu einem Gutteil weg, ohne dass man weiß, wie diese Verluste kompensiert werden können. Andererseits müssen für Kongresse, Messen und Ausstellungen gemäß früheren Standards künftig deutlich mehr Räume und/oder größere Flächen angemietet werden, sollen die bisherigen Teilnehmer-/Ausstellerzahlen weiterhin bedient werden können. Viele Locations werden damit rasch an ihre Kapazitätsgrenzen und mancher Veranstalter an seine Budgetgrenzen stoßen.
Ob unter den aktuellen Bedingungen des Corona-Modus überhaupt ein Geschäft zu machen ist, kann nur jeder für sich selber entscheiden. Kein Kaufmann (über-)lebt auf Dauer mit Dumpingpreisen und bei Unterdeckung. Es könnte sein, dass Locations in kommunaler Hand bessere Überlebenschancen haben. Und große, finanzstarke Unternehmen können die höheren Kosten vermutlich leichter stemmen. Aber was ist mit den vielen anderen? Wie können die überleben? Ein (wesentlicher) Teil der Lösung heißt Liquidität! Aber das ist ein anderes Thema.
Über den Autor:
(Bild: Alex Talash)
Dr. Frank Mücke ist Geschäftsführer der kodex-zertifizierten Full-Service-Agentur comed GmbH in Köln und bietet 30 Jahre Erfahrung in der Veranstaltungsorganisation, speziell in den Bereichen Pharma, Medizintechnik, Wissenschaft und Verbände. Die Agentur organisiert „kleine und feine“ Veranstaltungen ebenso wie Kongresse mit mehreren Tausend Teilnehmern.
Quellenangaben:
BMAS: Bundesministerium für Arbeit und Soziales: SARS-CoV-2-Arbeitsschutzstandard (Paper 6 Seiten, Stand 16.04.2020), https://bit.ly/3fWKIbo
EVVC/Löhr: EVVC Positionspapier Veranstaltungswirtschaft (Stand 23.04.2020), veröffentlicht 24.04.2020, https://bit.ly/3fTqkIt
MAGS: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW: Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (Coronaschutzverordnung – CornaSchVO) in der ab dem 11. Mai 2020 gültigen Fassung, https://bit.ly/3bFDsgS
M-VStättVO: Fachkommission Bauaufsicht der Bauministerkonferenz (Hrsg.): Musterverordnung über den Bau und Betrieb von Versammlungsstätten (Muster-Versammlungsstättenverordnung – MVStättVO) Fassung Juni 2005, zuletzt geändert Juli 2014, https://bit.ly/3cGcXJA
Oberhagemann, Dr. Dirk: Statische und dynamische Personendichten bei Großveranstaltungen, Punkt 3. Technischer Bericht – TB 13-01. Hrsg.: Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V. (vfbd). Eigenverlag, Altenberge, März 2012), Rheingoldhalle (Mainz) – Gutenbergsaal, https://bit. ly/2T8wr1J, https://bit.ly/2LDa7Jw
R.I.F.E.L. e.V.: Veranstaltungssicherheit im Kontext von Covid-19. Version 2.0 vom 28.04.2020. Handlungsempfehlungen des Research Institute for Exhibition and Live-Communication (R.I.F.E.L.), Berlin, https://bit.ly/366ge2l
Viele Veranstaltungen und Kurse wurden dann in Online umgewandelt. An sich eine tolle Idee, jedoch ist es nochmal was komplett anderes live dabei zu sein. Um live dabei zu sein, musste man sich dann eine ffp2 Maske kaufen.
[Hinweis der Redaktion: URL entfernt]
Viele Veranstaltungen und Kurse wurden dann in Online umgewandelt. An sich eine tolle Idee, jedoch ist es nochmal was komplett anderes live dabei zu sein. Um live dabei zu sein, musste man sich dann eine ffp2 Maske kaufen.
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