Nicht wenigen Softwarelösungen geht es genau wie Weihnachtsgeschenken: Nach einer euphorischen Bespielung landen sie in der Ecke und werden vergessen. Um langjährig gelernte Prozesse in die digitale Welt zu überführen, braucht es mehr als ein schickes Tool.
(Bild: Shutterstock / BrAt82)
Im Informationszeitalter über Digitalisierung zu schreiben, ist ein bisschen, wie das Internet zum Neuland zu küren – aber dennoch: Wir sind in bestimmten Bereichen immer noch weit entfernt von einem selbstverständlichen und vor allem auch emanzipierten Einsatz von Digitalisierungsmöglichkeiten und -lösungen. Die Schere zwischen dem Einsatz künstlicher Intelligenz zur Vorhersage von potenziell kritischen Dichten und dem eifrigen Setzen von Filzstiftpünktchen auf ausgedruckten Plänen geht eher weiter auf, als dass sie geschlossen wird.
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Megatrend mit Hindernissen
In den letzten Jahren war in Bezug auf die digitalen Veranstaltungsformate immer wieder von einem „Megatrend“ die Rede – und dennoch sitzen wir bis heute in Videokonferenzen, in denen irgendjemand den Zugang nicht bekommt, keinen Ton hat oder das Teilen einer Datei einen datenschutzrechtlich problematischen oder persönlich unangenehmen Blick auf den Desktop ermöglicht.
So ähnlich verhält es sich auch mit Softwarelösungen, die im Rahmen des Crowd Managements mehr und mehr Eingang in die Planung und Umsetzung von Veranstaltungen finden. Mit vielen dieser Softwarelösungen ist es ja so wie mit Weihnachten: Man steht mit glänzenden Augen vor dem (digitalen) Schaufenster und kann sich nichts Schöneres vorstellen als dieses Programm, diese App endlich zu besitzen … aber was kommt dann? Nicht wenigen Softwarelösungen geht es dann auch genau wie den Weihnachtsgeschenken: Nach einer euphorischen Bespielung landen sie in der Ecke, weniger und weniger genutzt, am Ende vergessen. Oftmals ist der Grund, dass man sich im Vorfeld nicht genug mit der Software auseinandergesetzt hat – oder mit den eigenen Bedürfnissen dahingehend. Überzogene Erwartungen, Anwendungsprobleme, sich sträubende Mitnutzer:innen – es gibt eine Vielzahl von Gründen, die aus einem hochfunktionalen und theoretischem Tool ein Datenwrack oder – noch schlimmer – ein tatsächliches Problem machen. Und so klingt die die Aussage „Dafür haben wir eine App“ manchmal wie eine Warnung: eine Warnung, dass das eigene Denken einem Algorithmus untergeordnet wird.
Ein Werkzeug ist ein Werkzeug ist ein Werkzeug
Nehmen wir die Themen Simulation und Überwachung von Personenströmen: neue und bessere Rechner machen Simulationen schneller, neue Videosysteme verbessern die Erkennung von Personenströmen – bis hin zum Individuum. Neue Softwarelösungen erkennen bestehende Dichten, und die künstliche Intelligenz sagt uns voraus, wie sich diese Dichte im Verlauf entwickelt. Der Nutzen, den solche Lösungen haben könnten, könnte immens sein – sofern man die Grenzen nicht übersieht.
Das Bild, das Ergebnis ist nichts ohne die Bewertung und Auswertung durch den Menschen, durch die Anpassung des Ergebnisses in den tatsächlichen Kontext. Ein durch eine Simulation prognostizierter oder auch durch eine Echtzeiterfassung tatsächlich wahrgenommener Hotspot kann alles möglich bedeuten – die Software ist hier ein wichtiger Bestandteil der Informationsgewinnung. Für die Bewertung und die Ableitung von Konsequenzen braucht es jedoch Wissen, Erfahrung und auch ein Gespür für die Situation.
Die gleichen Probleme stellen sich auch auf der Anwendungsebene: Jede Erleichterung hilft. Sie spart Zeit, ggf. Geld, sie sorgt für mehr Präzision und Dokumentation. Aber oftmals stoppt der Prozess irgendwo. Der digital erstellte Plan muss am Ende doch ausgedruckt werden, weil die dafür notwendige Software nicht auf dem Behördenrechner installiert werden darf. Der digitale Kontrollraum bleibt leer, weil die Nutzung nie wirklich implementiert wurde – „Wir nutzen jetzt eine Software“ ist weder motivatorisch noch didaktisch ausreichend, um langjährig gelernte Prozesse in die digitale Welt zu überführen. Vorsicht ist auch geboten bei neuen Systemen oder neuen technischen Lösungen, die von außen in ein eigentlich gut funktionierendes System hereingebracht werden. Natürlich spricht nichts dagegen, Neues auszuprobieren und neue Lösungen zu testen – gerne aber nicht auf dem Rücken von 50.000 Menschen, die sich darauf verlassen, dass „ihre“ Sicherheitsorganisation auf verlässliche, gelernte und trainierte Abläufe besteht.
Die Herausforderungen klingen trivial im Hinblick auf die atemberaubenden Möglichkeiten und die oftmals beeindruckenden Anwendungsbeispiele. Aber damit entspricht die Herausforderung rund um die Digitalisierung des Crowd Managements dem Kern des Crowd Managements selbst:
Es geht immer um den Menschen.
Es geht immer um den aktuellen Kontext.
Die Dinge müssen zu Ende gedacht werden.
„Nur, weil jemand etwas unbedingt will“ war immer schon ein schlechter Ratgeber – und das gilt auch im Bereich der technologischen Entwicklung oder der Digitalisierung. Eine funktionierende Sicherheitsorganisation zu ändern, „weil man besonders modern erscheinen möchte“, ist genauso wenig eine gute Idee wie der Einsatz von im konkreten Kontext ungetesteter Systeme. Nur, weil etwas woanders funktioniert hat, bedeutet es nicht zwingend, dass das gleiche positive Ergebnis auch im konkreten Einsatz erreicht wird: andere Bedingungen, andere Abläufe, andere Herangehensweisen.
Never play on patchday
Wie immer gibt es aber, auch wenn es gut läuft, nichts umsonst: Mehr Bequemlichkeit, Schnelligkeit, Vereinfachung etc. bedeutet immer auch mehr Anfälligkeit und mehr Abhängigkeit von der Funktion und vom Funktionserhalt. Was früher der Stromausfall war, ist heute im besten Fall der Systemausfall oder auch der Hacker-Angriff. Cyberkriminalität als Megatrend.
Moderne Sicherheitskonzepte werden sich neben Unwettern und Bombendrohungen auch mit diesen Szenarien auseinandersetzen müssen: Was ist, wenn die komplette IT des Stadions ausfällt? Was ist, wenn der Zugriff auf Dokumente oder Funktionen gesperrt ist? Wer sich das nicht vorstellen kann oder mag, dem sei ein Blick auf vergangene Hackerangriffe auf Krankenhäuser („Mitarbeiter arbeiten mit Zettel und Stift“1) oder Verwaltungen („Die Kreisverwaltung ist auch in der kommenden Woche nicht arbeitsfähig“2) angeraten.
Auch hier lauert ein größeres Problem und damit auch ein größeres Risiko wieder bei den Nutzer:innen: die USB Sticks, die zwischen privaten und Firmenrechnern hin und herwandern, die offenen Rechner im Zugabteil, auf denen sich die Präsentation des nächsten Tages für jeden mitlesen lässt. Und überhaupt: kein Backup – kein Mitleid.
Es gibt kein Zurück, aber …
Es gilt, die zahlreichen Vorteile der Digitalisierung gegenüber den damit einhergehenden Anfälligkeiten abzuwägen. Wohl dem, der schon einmal über Kontinuitätsmanagement nachgedacht hat. Es gilt, Anfälligkeiten zu finden, Anfälligkeiten zu minimieren, Rückfallebenen zu schaffen. Insbesondere in Bezug auf sicherheitskritische Einsatzbereiche gilt: Je kürzer die maximal tolerierbare Ausfallzeit, desto wichtiger die Eliminierung der Anfälligkeit.
Dazu kommen die Ideen einer schönen neuen Welt: Sind Roboter nicht vielleicht die besseren Sicherheitsmitarbeitenden? Roboter können inzwischen (fast) alles: Sie können in jedweder beliebigen Sprache kommunizieren, kräftig zupacken, sogar freundlich lächeln – das ist nicht jedem gegeben. Stärker, präziser und schneller sind sie ohnehin. Und sie werden niemals müde und können rund um die Uhr eingesetzt werden – ein Traum für die ständig mit dem Arbeitszeitgesetz im Clinch liegende Veranstaltungsbranche.
Es ist ein Fakt, dass Roboter in Zukunft mehr und mehr Menschen ersetzen können und auch werden – nicht umsonst ist vom „Roboterzeitalter“ die Rede. Die Frage, inwieweit dies tatsächlich mehr als ein Gimmick wird, wird sicherlich nicht sofort, dann aber sehr ernsthaft zu diskutieren sein.
Erst einmal aber wieder auf die Gegenwart blickend bleibt festzustellen, dass Technologien, seien es bereits bewährte oder auch ganz neue Lösungen, eine zentrale Rolle dabei spielen, auch die Arbeit bei Veranstaltungen effektiver, schneller und – vermutlich – günstiger zu gestalten. Alles Argumente, die im Kontext der aktuellen Herausforderungen von Personal- und Materialmangel wichtiger denn je sind.
Im Kontext des Einsatzes der Digitalisierung im Crowd Managements bleibt es jedoch von Bedeutung, nicht den Blick für das Wesentliche zu verlieren, das, was Veranstaltungen letztlich „sicher“ macht.
Es ist die Handlungsfähigkeit der Menschen, gespeist aus Erfahrungen, aus Wissen und Empathie, die Veranstaltungen sicher machen – gerne unterstützt durch technologische oder digitale Lösungen. Nimmt man diese Unterstützung als das, was es ist – ein Handwerkzeug – und vergisst dabei nicht die Rolle und die Bedeutung des Menschen, dann ergeben sich hieraus fantastische Möglichkeiten, Veranstaltungen besser und sicherer zu machen.
Eine funktionierende Sicherheitsorganisation braucht das Selbstverständnis und das Vertrauen in die eigenen funktionierenden Abläufe, ohne dabei das Interesse an Neuem zu verlieren. Sie braucht die Vorteile schneller Kommunikation und Vernetzung genauso wie den kommunizierenden Menschen. Sie braucht Technik und Mensch, Chip und Stift. Für beides gibt es keinen Vertrauensvorschuss, Rückfalleben müssen immer geschaffen werden.