Christian Reinwald über die globalen Lieferketten-Probleme
von Redaktion,
Christian Reinwald, Head of Product Management & Marketing bei reichelt elektronik spricht über die Folgen der globalen Lieferketten-Probleme für die deutsche und europäische Elektronikindustrie. Wie unterscheiden sich die Sorgen deutscher Unternehmen von ihren europäischen Nachbarn? Und welche Optionen bleiben ihnen, um Lieferengpässe zu überstehen?
Lieferketten
Ein Wechselspiel aus Ereignissen hat in den letzten zwei Jahren sowohl die Produktions- als auch die Transportkapazitäten immer wieder eingeschränkt. Derzeit stellen Staus an Häfen eine Problematik dar.
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Durch den Lockdown in Shanghai komme es dort und in der Nachbarprovinz Zhejiang noch immer zu einem Stau, der etwa 3% der weltweiten Frachtkapazität binde. Und auch vor der Nordseeküste stehen Frachter mit Lieferungen im Stau und müssen auf eine Abfertigung in den Häfen von Hamburg, Bremerhaven, Rotterdam oder Antwerpen warten. Diverse Streiks in deutschen Häfen und Personalmangel im Transportwesen hierzulande sollen die Situation zusätzlich verschlimmern. Bisher seien nach Angaben des Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) Exporte im Wert von 700 Millionen Euro von China nach Deutschland entfallen. Darunter leide auch die Elektronik-Industrie, denn wichtige in China gefertigte Bauteile fehlen.
Auch der Ukraine-Krieg übe einen Einfluss auf die Lieferketten aus. Transportwege über Luft, Straße, Schiene und Wasser sind blockiert und versperren Handelsrouten. Embargos erschweren den Handel mit einigen Rohstoffen. Der Krieg führe auch langfristig zu Zerstörung, wie etwa am Beispiel der ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer oder wichtige Produktionsanlagen in Odessa für Neongas, das für die Chipherstellung benötigt wird. Auf der anderen Seite entspanne sich bei manchen Produkten wie etwa Grafikkarten die Marktsituation in Europa, da Abnehmer aus Russland fehlen.
Produktion
Den Unternehmen in Europa, die von den Lieferungen von Rohstoffen, Vorprodukten und Bauteilen abhängig sind, bleibe nur übrig, schnell und agil zu reagieren und vorausschauend zu planen. Denn vorhersehbar seien viele der derzeitigen Krisen nur bedingt gewesen. So sollen in einer von reichelt elektronik im Januar und Februar durchgeführten Studie noch 42% der deutschen Industrieunternehmen gesagt haben, sie rechneten in diesem Jahr mit einer Verbesserung der Lieferketten-Situation. Heute würde eine Befragung nach Christian Reinwald wieder anders ausfallen.
Lieferengpässe und Produktionsausfälle – ein europäischer Vergleich
Alles in allem sei der Einfluss von Lieferschwierigkeiten bereits im letzten Jahr nennenswert gewesen. Dazu zählen nicht nur Verzögerungen und Produktionsausfälle, sondern auch gestiegene Kosten für Produkte sowie Fracht. 43% der Industrieunternehmen in Europa seien der Ansicht, die aufgetretenen Lieferengpässe hätten großen Einfluss ausgeübt. In diesem Vergleich bewerte Deutschland die Lage relativ gut mit einem Drittel der Unternehmen (33%), die dieser Meinung sind. In Italien, Österreich und den Niederlanden ziehen Unternehmen die schlechteste Bilanz. Dort sei es neben der Schweiz auch zu mehr Tagen erzwungenem Produktionsstopp gekommen.
Dennoch sehe Deutschland die Lage pessimistisch. 20% der deutschen Unternehmen – im Gegensatz zu 11% im europäischen Durchschnitt – haben bereits Anfang des Jahres nicht mit einer Verbesserung der Liefersituation gerechnet. Ebenso vertrauen auch durchschnittlich weniger deutsche Firmen auf das Just-in-Time-Modell. Während 21% der deutschen Unternehmen nicht mit einer Rückkehr zu Just-in-Time-Lieferungen rechnen, sagen dies im Rest Europas nur 14%.
Diversifizierung der Lieferkette, Lageraufstockung, Eigenproduktion
Eine Diversifizierung der Lieferketten sei für einige Produkte möglich, jedoch in den meisten Fällen keine schnelle Lösung. Der Wechsel des Chipproduzenten könne bis zu ein Jahr Vorlaufzeit beanspruchen.
Einige Unternehmen sollen deshalb innerhalb des letzten Jahres die eigenen Lagerbestände ausgebaut haben. In der oben erwähnten Studie gaben 50% der befragten Unternehmen an, diesen Schritt getan zu haben. Damit liege Deutschland im europäischen Vergleich etwas hinten. In Italien, Niederlande, Österreich und der Schweiz haben 57 bis 69% der Unternehmen diese Maßnahme gewählt. Dennoch geben auch 82% der europäischen Unternehmen an, oft oder zumindest manchmal Probleme beim Aufbau von Lagerbeständen erlebt zu haben.
Deshalb steige ein Teil der Unternehmen dort, wo es geht, auf Eigenproduktion um. 54% der europäischen Unternehmen produzieren bereits Teile wieder selbst, die sie vormals gekauft haben. Besonders in Österreich (74%) und der Schweiz (65%) sei diese Option beliebt, während Frankreich (36%) darin keine Möglichkeit sehe.
Fazit
Anstatt einer Entspannung am Elektronikmarkt warte 2022 nach Christian Reinwalds Einschätzung womöglich mit den größten Herausforderungen der letzten Jahre auf. Eines sollen die Unternehmen jedoch durch all die Herausforderungen gelernt haben: sich anpassen, insourcen, Alternativen finden, Lagerbestände erhöhen und neue Wege gehen. Und wenn sich insbesondere die deutschen Unternehmen auf ihre fachlichen Kompetenzen und Flexibilität besinnen würden, dann könne diese Krise für sie eine europäische Chance sein – trotz schlechterer Rahmenbedingungen bei Energie- und Arbeitskosten. Denn die Wege von und nach USA oder China seien für die europäischen Länder länger und unsicherer geworden – daher funktioniere es vielleicht jetzt umso besser mit den „Nachbarn“ in Europa.